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Ein unsichtbares Böses sorgt für Blutvergießen in einer Kochschule. „Chime“ weist viele der Markenzeichen von Regisseur Kiyoshi Kurosawa auf, kann aber mit seinen besten Horrorfilmen nicht mithalten.

Chime (2024)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Wem die Glocke schläg

Um die Jahrtausendwende erlebte der sogenannte J-Horror einen internationalen Hype. Nachdem in Hollywood die Slasherformel bis zur Ermüdung ausgewrungen worden war, fühlten sich japanische Filme wie Hideo Nakatas „Ring“ (1998) frisch an, die mehr auf Atmosphäre setzten und sich oftmals mit den Entfremdungseffekten der Moderne und der Massenmedien beschäftigten. Kyoshi Kurosawa war eine wichtige Figur dieses Hypes. Vor allem sein Film „Pulse“ (2001), der das aufkommende Internet ebenso wie die Einsamkeit junger Menschen behandelt, war international erfolgreich. Zu Recht: ein komplexes und niederschmetterndes Werk. Nach diesem Erfolg befreite sich Kurosawa von den Erwartungshaltungen und drehte etwa das Familiendrama „Tokyo Sonata“ (2008), das auch ohne übernatürliche Elemente höchst beunruhigend ist, oder zuletzt den historischen Spionagefilm „Wife of a Spy“ (2020). Er kehrte aber immer wieder auch zu Horrormotiven zurück – so nun auch mit dem neuen Fünfundvierzigminüter „Chime“.

Ein Glockenton und ein Schrei – das sind zwei sehr unterschiedliche Klänge. Und doch sind das die Begriffe, die der junge Kochschüler Tashiro benutzt, um etwas zu beschreiben, das anscheinend nur er hört. Der Klang spreche zu ihm, sagt er. Tashiro steht dann wie eingefroren vor seiner Küchenzeile und starrt ins Nichts. Das Messer hält er dabei wie ein Serienkiller – von oben nach unten zeigend, bereit zum Zustechen, mit der Faust umklammert. An den Wänden des Seminarraums flackern währenddessen immer wieder Licht und Schatten. Ist dies ebenfalls nur Tashiros Wahrnehmung, oder sehen auch die anderen Figuren diese Erscheinungen?

Nach einer Unterrichtsstunde mit Tashiro und dessen auffälligen Verhalten fühlt sich schließlich der Lehrer Matsuoka (Mutsuo Yoshioka), der eigentlich lieber Koch in einem Restaurant wäre, verfolgt. Schließlich kommt es zum Unvermeidlichen: Tashiro rammt sich ein Messer in den Kopf.  Eine seiner Gehirnhälften sei durch eine Maschine ausgetauscht worden. Davon war Tashiro überzeugt.  Diese versuche, ihn zu kontrollieren. Um das zu unterbinden, durchstößt die Klinge den Schädel. Der Polizeiermittler hat daraufhin eine kuriose Frage an Matsuoka: Ob es vielleicht das Kochen sei, das die Leute psychisch durcheinander bringt?

Zumindest scheint das Böse ansteckend zu sein, denn das Unheil, das die titelgebende Glocke und das sie begleitende Flackern in der Seminarküche anrichten, ist mit Tashiros Tod noch nicht vorbei. Kiyoshi Kurosawa hat oftmals mit schwer greifbarem Horror gearbeitet: Horror, der nach unklaren Regeln funktioniert, ganz anders also als US-Slasherkino, und in dem die Hauptfiguren unzuverlässige Erzähler sind. Die Glocke, die als unsichtbare Hand Menschen in den Wahnsinn treibt, erinnert an das Motiv der Hypnose aus seinem Frühwerk Cure (1997).

Typisch für Kurosawa sind auch die statischen und streng komponierten Bilder. Der Seminarraum mit den vielen kleinen Küchenzeilen ist dafür ein geeignetes Setting. Die entscheidenden Horrorszenen stechen dann besonders hervor, da darin plötzlich Kamerabewegungen eingesetzt werden. Das kann Dynamik erzeugen oder, wie im Fall einer Plansequenz in Chime, einen Gewaltakt quälend lang ausdehnen.

Fans des Regisseurs dürften also an Chime ihre Freude haben. Neben seinen besten Werken wirkt dieses allerdings eher wie eine Fingerübung. Kaum ist die Welt so richtig aus den Fugen geraten, ist der Film auch schon vorbei. Vielleicht muss man Chime als Auftragsarbeit verstehen: Es handelt sich um die erste Eigenproduktion der Firma Roadstead, die eine neue Art von Online-Filmplattform betreiben will. Basierend auf Blockchain-Technologie, sollen die Zuschauer dort Anteile an Filmen erwerben und dann an weiteren Aufrufen mitverdienen.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

 

Chime (2024)

Matsuoka ist Lehrer an einer Kochschule. Eines Tages sagt sein Schüler Tashiro während des Unterrichts etwas Merkwürdiges: „Da ist ein Geräusch, es klingt wie ein Glockenschlag. Jemand schickt mir eine Nachricht.“ Die Schulleitung bezeichnet Tashiro als ein wenig sonderbar. Dann verkündet Tashiro, die Hälfte seines Gehirns sei durch eine Maschine ersetzt worden, und greift zu einem drastischen Mittel, um dies zu beweisen. Einige Tage nach dem Vorfall äußert die Schülerin Akemi während des Unterrichts Unwohlsein, das der Anblick eines ganzen Huhns in ihr auslöst. Matsuoka überkommt ein diffuses Gefühl. Sowohl in der Schule als auch zu Hause schleicht sich ein seltsames Grauen in sein Leben ein. (Quelle: Berlinale)

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