Log Line

Lützerath ist nur eines von vielen Dörfern, das für den Braunkohleabbau durch RWE umgesiedelt und abgerissen wurde. Doch die dortige Gegenbewegung konnte über drei Jahre hinweg Aufmerksamkeit für das wichtigste Thema unserer Zeit schaffen: den Klimawandel.

Lützerath - gemeinsam für ein gutes Leben (2024)

Eine Filmkritik von Lukas Hoffmann

Gemeinsam gegen den Braunkohleabbau

Immerath und Manheim, Inden und Lützerath: In den letzten 80 Jahren wurden über 300 Dörfer für den klimaschädlichen Braunkohleabbau abgerissen und deren Anwohner umgesiedelt. Treibende Kraft ist das börsennotierte Unternehmen RWE, einer der wichtigsten Energieversorger Deutschlands. Für die Braunkohle machen die Führungskräfte des Unternehmens regelmäßig Gebrauch von ihrem Recht zur Enteignung, welches sie nach dem Bundesberggesetz (BBerG) ermächtigt, ganze Dörfer umzusiedeln, solange die Umsiedlung dem „Wohle der Allgemeinheit“ dient. Im Zuge einer Erweiterung des Tagebaus Garzweiler II wurde 2006 damit begonnen, den nordrhein-westfälischen Weiler Lützerath umzusiedeln. Bis zum Abriss des Dorfes im Januar 2023 bildete sich eine stetig wachsende Gegenbewegung, die mit Mahnwachen, Demonstrationen und Hausbesetzungen versuchte, den Abriss zu verhindern.

Über eine Zeitspanne von 20 Monaten haben die Filmemacher*innen Carmen Eckhardt und Gerardo Milsztein diese Gegenbewegung begleitet. In Lützerath – Gemeinsam für ein gutes Leben dokumentieren sie die Geschehnisse rund um den Weiler: Angefangen bei der Mahnwache im Juni 2020, bei der gegen den Abriss der Landstraße 277 protestiert wurde, über den Aufbau einer nahezu autonomen Parallelgesellschaft in Lützerath bis zur Räumung des Dorfes durch die Polizei.

Mit Handkameras und Handyaufnahmen wurden die Arbeit und der Alltag der Aktivist*innen eingefangen, während Drohnen in weitläufigen Bildern die dystopische Zerstörung durch den Braunkohleabbau sichtbar machen. Sie zeigen, wie der Zeltplatz auf dem Grundstück des letzten in Lützerath verbleibenden Landwirts zum Nährboden für eine solidarische Gemeinschaft wird. Eine hierarchiefreie und diverse Kommune, in der alle Strukturen aus recycelten Baumaterialien errichtet werden, in der gemeinschaftlich für alle Aktivist*innen gekocht wird, in der gemeinsam musiziert, voneinander gelernt und miteinander gelebt wird. Eine Parallelgesellschaft, in der die Bedürfnisse der Menschen im Mittelpunkt stehen, aber nicht auf Kosten anderer Menschen erfüllt werden müssen. 

Durch ihre naturalistische Inszenierung gelingt es der Dokumentation, dieses Lebensgefühl im Camp der Demonstrant*innen festzuhalten und zumindest auf der Leinwand für die Zukunft zu erhalten. Auf extradiegetische Musik oder Erzählstimmen wird gänzlich verzichtet, immer ist Musik oder Gesang aus dem Camp und von den Demozügen zu hören, Menschen teilen ihre Eindrücke und Erlebnisse oder sprechen miteinander über kommende Aktionen. Neben den Demonstrationen und Mahnwachen werden Festivals, Workshops und Straßenfeste geplant, Menschen verschiedenster Religionen und Kulturen ziehen für das gemeinsame Ziel an einem Strang. Die Kamera ist immer unmittelbar dabei, es entsteht bereits beim reinen Zusehen ein Gefühl von Teilhabe, als wäre man selbst in Lützerath — zwischen idyllischer Utopie und dem Kampf um ein Dorf.

Dabei wird die Dokumentation zu einem Teil des Kampfes gegen RWE. Sie hält die Geschehnisse in Lützerath für die Zukunft fest, versucht das Vergessen zu verhindern. Denn spätestens in der zweiten Hälfte der Dokumentation wird klar, dass es um mehr geht als nur den Versuch, eine utopische Parallelgesellschaft aufzubauen. Wenn Tiere aus den Wäldern vertrieben werden, die ersten Häuser durch RWE abgerissen werden und die Polizeigewalt überhandnimmt, wird das Gezeigte immer realer, das Hinschauen immer anstrengender.

Lützerath – Gemeinsam für ein gutes Leben erfindet das Genre der Dokumentation nicht neu, wagt keine handwerklichen Spielereien und hat keine emotionalisierende Narrative. Stattdessen konzentrieren sich Carmen Eckhardt und Gerardo Milsztein vollkommen darauf, die Geschehnisse in Lützerath möglichst nüchtern zu zeigen und wortwörtlich zu dokumentieren. Sie schaffen Aufmerksamkeit und kämpfen gemeinsam mit den Aktivist*innen dafür, dass der Braunkohleabbau und die Umsiedlungen durch Energiekonzerne zu einem schnellstmöglichen Ende kommen.

Lützerath - gemeinsam für ein gutes Leben (2024)

Ein außergewöhnliches Laboratorium für ein gutes Leben für alle. Menschen machen sich für den Erhalt des Dorfes Lützerath stark. Sie stellen sich gegen die Zerstörung von Lebensraum und Natur durch den Bergbauriesen RWE. Sie nehmen das Pariser Klimaabkommen ernst: Eine Erwärmung der Erde von mehr als 1,5 ° darf nicht überschritten werden, um die globalen Folgen in Grenzen zu halten. Den Aktiven In „Lützerath“ geht es um weit mehr: Selbstorganisiert und kreativ bauen sie an ihrer Utopie vom guten Leben. Mit recycelten Materialien werden Holzhäuser in den Bäumen und auf dem Boden gebaut. Es gibt Kultur, Festivals und Workshops. All das wird in täglichen Zusammenkünften hierarchiefrei organisiert, um eine andere Welt zu leben: liebevoller, witziger, mitfühlender, selbstbestimmter und kreativer. Und doch wird Lützerath am Ende zu Gunsten eines klimafeindlichen Kohleabbaus für die Profitinteressen des schmutzigsten Braunkohletagebaus Europas gewaltsam geräumt. Der Film dokumentiert über 20 Monaten lang das Entstehen eines außergewöhnlichen Laboratoriums für ein gutes Leben für alle. Und dessen Zerstörung. Die Gewissheit bleibt: Nur viele zusammen können der Sand im Getriebe sein, um einen notwendigen Systemwandel zu gestalten.

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen