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Uli Gaulkes Film ist ein Mosaik aus Lebensweisheiten von 100-jährigen Frauen. Über Krieg, Konflikt und persönliche Krisen hinweg erzählen sie von Emanzipation, Wertschätzung und vom Fakt, dass sie immer noch träumen können. Ein Film, dem man einfach zuhören sollte. 

Ihr Jahrhundert - Frauen erzählen Geschichte (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

„Träumen kann ich immer noch“

Die Lebenserwartung von Frauen beträgt in Deutschland 83,4 Jahre, in Indien sind es 68,9 Jahre, in Japan 87,6 und in der Türkei 79,1. Nur circa 0,05 Prozent werden 100 Jahre alt. Genau diese Frauen besucht und begleitet der Regisseur Uli Gaulke mit seiner Kamera. Ihr Leben wird porträtiert; sie erhalten einen Raum, frei über ihre Geschichte zu reden. Dabei schneidet der Regisseur zwischen der Türkei, Indien, Israel und anderen Ländern hin und her. Frauen, die sich wahrscheinlich nie getroffen haben oder von der Existenz der anderen wissen, ergeben als Mosaik eine Bedeutung als Ganzes. 

Es steckt eine unglaubliche Kraft in der Fähigkeit des Dokumentarfilms, vermeintlich ohne Grenze zwischen fremden Lebensrealitäten und Zuschauer:innen zu vermitteln. Mit dem richtigen Auge ist keine Fiktionalisierung vonnöten. Doch es ist wichtig, nicht zu vergessen, welcher potenzielle Betrug dem Dokumentarischen inneliegt, von der kuratorischen Auswahl des Filmmaterials bis hin zur Gestaltung der Szenen nimmt Gaulke selbstverständlich trotzdem großen Einfluss auf die mutmaßliche Wahrhaftigkeit. „Das erste Buch, was ich gelesen habe, war Dostojewski“, sagt eine der Frauen, mit der er sich unterhält, dann eine Denkpause. Der Buchtitel scheint ihr nicht einzufallen, das Thema rollt weiter, und ein neuer Satz beginnt. Diese Leerstellen aus zwischen den Zeilen vergessenen Versatzstücken macht den Charme dieses Films aus.

Alain Resnais sagte in seinem 1956 Kurzfilm Nacht und Nebel über den Holocaust: „Es gibt diejenigen, die heute auf diese Ruinen blicken, als ob das Monster tot und unter ihnen begraben wäre.“ Die letzten Zeitzeugen sterben. Welche Verantwortung haben wir, diese Botschaft weiterzutragen? Und in welcher Form ist das überhaupt möglich? Einige der Protagonistinnen erzählen unverfroren von der Kriegszeit. Die eine von schrecklichen Lebensbedingungen, die andere, wie sie als Kind selbst Propaganda reproduziert hat. Blicke und Geschichten sind stets ambivalent. Man könnte es mit dem Film Nostalghia (1983) vergleichen, in dem Andrei Tarkowski anhand eines immer wieder neu aufgenommenen Gangs mit einer Kerze, die stets zu erlöschen droht, formuliert, was es bedeutet, zu glauben. Jede Geste, jede Anstrengung, noch einmal eine Geschichte zu erzählen, gleicht dieser absoluten Hingabe in den Augen der Frauen in Ihr Jahrhundert

Untermalt wird das Ganze mit einem Soundtrack, der zu Beginn noch an Ludovico Einaudi erinnern mag. In Zwischenbildern und im Transfer der einzelnen Protagonistinnen füllen diese Klavierstücke den Raum. Schlussendlich – in den letzten Augenblicken des Films – stellt sich heraus, dass wir die gesamte Zeit einer 108-jährigen Pianistin beim Spielen zuhörten. Chapeau!

Im Gespräch mit der indischen Yoga-Lehrerin V. Nanammal – die über eine Million Schüler:innen in ihrem Leben unterrichtete – fordert die Frau, man solle nicht zum Arzt gehen, die Kamera steht dabei auf derselben Höhe wie die eifrig zuhörenden Frauen. Gegen Regelschmerzen solle man eine Ingwermixtur auf der Stirn verteilen, gegen eine Erkältung reiche eigentlich der Glaube an Gott. Die Prämisse des Porträtierens beißt sich hier selbst in den Schwanz, da das Stellungbeziehen in diesem Format kaum möglich ist. Auch wenn eine andere Frau erzählt, wie sie als Kind während des Holocausts einen Juden beleidigte, wird dies lediglich durch das Vertrauen, das Publikum werde es schon richtig einordnen, aufgefangen. Ein großes Problem stellt das aber nicht dar, es zeigt vielmehr den respektvollen Umgang sowohl mit den Protagonistinnen als auch mit dem Publikum. 

Ihr Jahrhundert — Frauen erzählen Geschichte ist ein Film über Dankbarkeit, Wertschätzung und Emanzipation. Bilder aus der Vergangenheit werden mit der Lupe betrachtet und erzeugen im Kurzschluss ein Funkeln in den Augen. Manche Gespräche werden vom Rauschen des überlebenswichtigen Sauerstofftanks begleitet. Eine Frau vor der Kamera, im Hintergrund ihr säuberlich-sortiertes Wohnzimmer, ein kleiner Bruch in der Stimme, Blick in die Kamera: „Gebt nicht die Hoffnung auf, leistet Widerstand.“ Und wir als Publikum sollten zuhören. 

Ihr Jahrhundert - Frauen erzählen Geschichte (2024)

Sie sind fünf beeindruckende Frauen, die zusammen mehr als 500 Jahre auf dieser Erde verbracht haben. Sie kommen aus Kuba, Israel, Österreich, Indien und der Türkei und haben durch ihre Stärke und ihr Handeln die Menschen um sie herum inspiriert. Mit starkem Willen und festem Glauben an sich selbst sind sie über Rollenklischees hinausgewachsen und haben ihre Träume verwirklicht. Sie sind Ansporn für alle Frauen, ihren Weg konsequent zu gehen und für Gleichberechtigung einzustehen.

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Meinungen

Honold Sonja · 31.03.2024

sehr sehenswerter und authentischer Film