Leben in mir

Eine Filmkritik von Joachim Kurz

Und plötzlich ist alles anders...

Wenn man nicht um die langen Produktionszyklen der Filmindustrie wüsste, könnte man mit Blick auf die Neustarts in den Kinos beinahe an das Aufgreifen der derzeit schwelenden Diskussion um die mangelnde Gebärfreudigkeit und die damit verbundenen sozialen Verwerfungen glauben. Allerdings ist das Thema auch nur deshalb in den Fokus der Medien und der Politiker geraten, weil mit dem drastischen Geburtenrückgang der endgültige Kollaps der sowieso schon maroden Sozialsysteme droht, was die gute Absicht in vielen Anregungen schnell wieder desavouiert. Während der deutsche Film Lucy von Henner Winckler sich vor allem mit dem Problem beschäftigt, wie sich das Leben durch ein Kind verändert – vor allem dann, wenn die Eltern jung sind und sozial nicht abgesichert, setzt der polnische Film Leben in mir / Ono von Malgosia Szumowska wesentlich früher an und schildert die pränatale Beziehung zwischen einer Mutter und ihrem Kind.

Die 22-jährige Eva (Malgosia Bela) sieht sich eines Tages vor eine Entscheidung gestellt, die ihr Leben verändern wird: Sie ist schwanger und hin und her gerissen zwischen dem Wunsch nach einer Abtreibung und dem Verlangen, das Kind, das in ihr heranwächst, zu behalten. Evas Leben ist njcht gerade einfach, sie schlägt sich mit Gelegenheitsjobs durchs Leben, ihr Vater Marek (Malczewski) verfällt zunehmend, während ihre Mutter (Teresa Budzisz-Krzyzanowska) verzweifelt die Fassade der heilen Familie aufrecht zu erhalten versucht. Der Erzeuger des Kindes, das in Eva heranwächst, spielt längst keine Rolle mehr in ihrem Leben, so dass sie sich allein für oder gegen das Kind entscheiden muss. Just in dem Moment, als Eva sich zur Abtreibung entschließt und das nötige Geld aufgetrieben hat, wird ihr das Geld von einem Junkie gestohlen – ein Wink des Schicksals. Und als die werdende Mutter in der Klinik ein Gespräch zwischen einem Arzt und einer Schwangeren belauscht, in dessen Verlauf sie mitbekommt, dass die Embryos bereits im Mutterleib viel von ihrer Umwelt mitbekommen, ändert sich langsam ihr Verhältnis zu ihrem Kind, das sie erwartet. Behutsam nimmt Eva Kontakt zu dem kleinen Leben in sich auf und versucht, das Kind auf die Welt vorzubereiten. Dann trifft Eva auf Ivona (Barbara Kurzaj), eine junge Prostituierte und auf Michal (Marcin Brzozowski), den Junkie, der sie bestohlen hat – zwei Begegnungen, die ihr Leben verändern. Zumal Eva versucht, ihre langsam wiederkehrende Lebensfreude auch an andere weiterzugeben…

Leben in mir / Ono haftet trotz der Schwere des Themas und der Tristesse der Umgebung etwas zutiefst Traumhaftes und Erhabenes an, das diesen Film zu einem außergewöhnlichen sinnlichen Erlebnis macht. Immer wieder findet Malgosia Szumowska religiöse Allegorien und Bilder, die an biblische Gleichnisse denken lassen, um Eva und ihre Umwelt zu charakterisieren. Hinzu kommt die wundervolle Musik Johann Sebastian Bachs, die den quasi religiösen Charakter der Geschichte gekonnt unterstreicht und über weiter Strecken des Films vergessen lässt, wie sparsam sich hier die Dialoge gestalten.

Mit Leben in mir / Ono reiht sich Malgosia Szumowska nahtlos in die Traditionen des polnischen Films, wie ihn Krzysztof Kieslowski und Andrzej Wajda vertraten – Kino als symbolisches Erweckungserlebnis, als bilderschwere, betörende religiöse Parabel, die das Leben mit magischem Realismus nachzuzeichnen versteht und zeigt, wie viel Wunderbares und Schreckliches jeder Existenz inne wohnt.
 

Leben in mir

Wenn man nicht um die langen Produktionszyklen der Filmindustrie wüsste, könnte man mit Blick auf die Neustarts in den Kinos beinahe an das Aufgreifen der derzeit schwelenden Diskussion um die mangelnde Gebärfreudigkeit glauben.

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