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Wie können wir die Welt erklären, die uns umgibt? Wie erlangen wir Einsicht in den Aufbau von Zeit und Materie? Und wie sollen wir uns darüber dann noch verständigen? „Die Sinfonie der Ungewissheit“ hat zwar keine Antworten, aber eigene Versuchsanordnungen zwischen Kunst und Wissenschaft.

Die Sinfonie der Ungewissheit (2018)

Eine Filmkritik von Lars Dolkemeyer

Partikel einer anderen Welt

An der Forschungseinrichtung DESY (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg begleitet Claudia Lehmanns Dokumentarfilm „Die Sinfonie der Ungewissheit“ den Physiker Gerhard Mack auf einem Rundgang durch die beeindruckenden Gebäude und Forschungsanlagen. Lehmann konfrontiert ihren Doktorvater Mack in immer wechselnden Gesprächsanordnungen etwa mit einer schamanischen Heilerin, dem Regisseur und Autor Hark Bohm, mit Macks eigenem Doktorvater Hans Kastrup, oder mit seiner Frau, der Heilpraktikerin Rosemarie Dypka.

Zwischen und über die Gespräche legen sich dabei die beeindruckenden Klang-Sphären, die das „Elementarstrategien“-Ensemble unter der Leitung von Konrad Hempel aus den maschinellen, mechanischen Klängen der Forschungsanlagen in eine experimentelle Sinfonie überträgt: Das Klackern der Erfassung von Elementarteilchen bildet sich zu einem Rhythmus aus, der auf alten, leeren Tanks und Gerüsten des Forschungsgeländes gespielt wird; das Sirren feiner Maschinen wird vom Zittern der Violinen aufgenommen; selbst das Zwitschern der Vögel auf dem teilweise bewaldeten Areal geht in den Klängen der entstehenden Sinfonie auf. In ihr vibriert die unbegreifliche Tiefe der Materie, sie wird vielleicht allein in dieser Annäherung der ästhetischen Erfahrung begreifbar.

Darin liegt eine der zwei Seiten, die im Film immer wieder in einen Dialog gebracht werden: Ist die sogenannte Wirklichkeit etwas, das nur in meiner ganz eigenen, subjektiven Erfahrung zugänglich wird? Können nur Kunst und Innerlichkeit Erkenntnisse darüber gewinnen, wie eine Welt geformt ist, die ich anderen immer wieder neu mitteilbar machen muss? Vor allem zwischen Gerhard Mack und seiner Partnerin Rosemarie Dypka entwickelt sich eine Dynamik, die vom eingespielten Disput zweier Zugänge zur Welt zeugt. Gerade durch die Nähe der beiden öffnen sich die interessantesten Gedanken im Widerstreit einer physikalischen Sicht auf verifizierbare, wiederholbare Sachverhalte – und im Beharren auf die grundlegende Unzugänglichkeit jener inneren Vorgänge, die für Mack als komplexe Systeme nur noch nicht mit adäquaten Begriffen der objektiven Beschreibung zugänglich gemacht werden konnten.

Doch nicht immer ist dieser Austausch zweier unvereinbarer Perspektiven fruchtbar, nicht immer stoßen die Gespräche der Protagonist*innen auf neue Gedanken – zumal der grundlegende Konflikt des Films in der Geschichte der Natur- und Geisteswissenschaften keineswegs ein neues Problem aufwirft. Die Relevanz der Frage nach den Möglichkeiten der Formulierung von Wahrheit und der Erkenntnis von Wirklichkeit ist in Zeiten von sogenannten „fake news“ und „alternativen Fakten“ natürlich offensichtlich – doch gelangt der Film nur selten darüber hinaus, festzuhalten, dass es diesen Zusammenhang gibt. Wie sich Wissenschaft und Kunst zueinander in neue Verhältnisse setzen ließen, wie neue Weisen der Mitteilbarkeit von Wissen und Wahrheit aussehen könnten, wie veränderte Bedingungen öffentlicher Diskurse auf veränderte Bedingungen wissenschaftlicher Arbeit zurückweisen – all dies bleibt über weite Strecken lediglich angedeutet.

Doch in diesen Andeutungen liegen auch eigene Energien: Die musikalischen Arrangements, immer wieder zwischen den Gesprächssequenzen in den Fluren, Hallen und Tunneln der Forschungsanlage eingespielt, wecken eine Ahnung davon, wie Quantenphysik jenseits ihrer physikalischen Beschreibbarkeit anders erfahrbar werden könnte. In den schwenkenden, handgeführten Aufnahmen, die in schwarz-weißen Bildern selbst immer wieder auf der Suche nach anderen Ansichten der Forschungsanlage sind, wird gezielt auch das ökonomische Fundament des Wissenschaftsbetriebes in den Blick gerückt – das Häppchenreichen, Tassenspülen, Schließkartenverwalten des akademischen Alltags. Es deuten sich Ansichten an, die einen eigenen Blick auf die Bedingungen und Strukturen physikalischer Erkenntnis ermöglichen, dabei aber nie genug Raum bekommen, sich weiter zu entfalten.

Wie zwei Teilchen treffen in den dialogischen Versuchsanordnungen der Regisseurin verschiedene Perspektiven und Haltungen aufeinander: Manchmal geschieht etwas Unvorhergesehenes, neue Einsichten entstehen – manchmal ist das Ergebnis aber auch banal und erwartbar. Es ist Aufgabe von Kunst und Wissenschaft gleichermaßen, sich immer wieder zu fragen, unter welchen Umständen Erkenntnis gewonnen und zugänglich gemacht werden kann. Vielleicht braucht es dann auch gar keine gemeinsame Ansicht darüber, was Erkenntnis eigentlich ist, solange Erkenntnisse sich im kontinuierlichen Austausch befinden, sich immer wieder treffen, abprallen und ihren Weg durch eine ungewisse Wirklichkeit fortsetzen.

Die Sinfonie der Ungewissheit (2018)

Das Deutsche Elektronensystem in Hamburg kurz DESY, beherbergt einige der größten Teilchenbeschleuniger der Welt und ist als internationale Forschungsstätte selbst schon eine Welt für sich. Hier treffen Elementarteilchen aufeinander; hier lässt die Filmemacherin Claudia Lehmann aber auch ihren ehemaligen Doktorvater, den Physikprofessor Gerhard Mack, auf andere Wissenschaftler treffen (darunter seinen eigenen Doktorvater) sowie auf eine Schamanin, seine Lebensgefährtin oder den Filmemacher Hark Bohm. Sie alle konfrontieren ihn mit Fragen zu unserer Existenz — Weltsichten kollidieren. Mit der Theorie komplexer Systeme hat Gerhard stets versucht, das Leben interdisziplinär zu begreifen, und so versucht er auch jetzt, eine Sprache zu finden, die über die Grenzen der Mathematik und der Physik hinausgeht. 

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Meinungen

Thomas Maess · 01.09.2020

Der in schwarz-weiß gehaltene Dokumentarfilm „Die Sinfonie der Ungewissheit“ entfaltet seine volle Wirkung nach dem Zuschauen. Denn eigentlich setzt er ein Gespräch fort, in dem wir uns schon immer befinden und das uns bis zum Tod begleiten wird. Die Fragen nach dem Sinn unseres Daseins werden klar gestellt: nach der Aufgabe im Leben, nach Wahrheit und Menschlichkeit, nach Transzendenz und Religion, nach Leben und Tod. Und sie werden verknüpft mit den physikalischen Fragen nach den Elementarteilchen, nach komplexen Systemen, nach der Unendlichkeit des Kosmos, nach dem, was die Welt im Innersten zusammenhält. Diese Verknüpfungen zwischen den uns umgebenden Wirklichkeiten und unserem innersten subjektiven Sein heben dieses Film-Gespräch heraus aus unseren Sehgewohnheiten und machen den Film zu einem ganz außergewöhnlichen Erlebnis. Es ist eine glückliche Fügung, dass die Filmemacherin Claudia Lehmann selbst promovierte Physikerin ist, aber vor einigen Jahren diese Profession aufgab zugunsten ihrer künstlerischen Laufbahn als Regisseurin, Videokünstlerin und Gastprofessorin an verschiedenen Kunsthochschulen.
Im Film-Gespräch sind Gerhard Mack (Doktorvater von Claudia Lehmann) und Hans Kastrup, zwei international renommierte Physiker, der Filmautor Hark Bohm, eine schamanische Heilerin und die Heilpraktikerin Rosemarie Dypka, die Ehefrau von Gerhard Mack. Zwischen die philosophischen Fragen haben sich Alltäglichkeiten wie Cafétrinken, Abwaschen und Tischdecken eingenistet, die ein nützlicher Hinweis darauf sind, dass neben all den tiefsinnigen Dialogen das Menschsein in einem banalen Umfeld stattfindet. Dramaturgisch wird so ein Zusammenhang zwischen Wahrheitssuche und schlichtem Alltag hergestellt. Im Film wird das eindringlich in Bildern präsent. Einerseits können die alltäglichen Verrichtungen mit dem ästhetischen Niveau des philosophischen Gesprächs mithalten, und andererseits wird das philosophische Gespräch über den Sinn des Lebens alltagstauglich erlebt. Plötzlich entstehen Einsichten darüber, dass banale Alltäglichkeiten aus sich heraus etwas bedeuten können für unsere Sinnsuche.
Die Berührungen zwischen der Wissenschaft und dem subjektiven Leben werden an einem Filmort sinnhaft, der beispielgebend für die Erforschung der Welt steht: Die Forschungseinrichtung DESY (Deutsches Elektronen-Synchrotron) in Hamburg ist der einzige Drehort des Film. Dieses Areal bleibt auch im Film unübersichtlich; dennoch hat es eine eigene Ordnung, die in den jeweiligen Filmsequenzen plötzlich sinnfällig wird. Vorwiegend dunkle Gänge bestimmen das Bild, große technische Apparaturen wechseln mit Bildschirmen in unzähligen Büros. Hier wird an den Elementarteilchen unseres Universums geforscht. Der Teilchenbeschleuniger arbeitet mit einer unglaublichen Präzision und Geschwindigkeit. Dieses Tempo kontrastiert mit den ruhigen Gesprächen über die Sinnfragen sowohl der Wissenschaft als auch unseres Lebens. Lebensfragen haben keine Eile. Das Tempo des Films entspricht einem ruhigen andante, aber er läuft vor dem Hintergrund unvorstellbarer Geschwindigkeiten. Ein weiterer Spannungsbogen tut sich auf: Die Atemlosigkeit unseres Zeitgeistes wird regelmäßig durch die Dialoge der handelnden Personen storniert. Der ruhige Lauf des Films ist eine Wohltat für die Zuschauerin und den Zuschauer.
Zu den Sinnfragen der Menschheit gehören unsere Potentiale von Phantasie und Kreativität, die sich in der Kunst manifestieren. Die „Sinfonie der Ungewissheit“ hat Klangfarben direkt aus dem Forschungsareal DESY in eine eindringliche Begleitung der Filmminuten verwandelt. Konrad Hempel hat mit seinem Musik-Ensemble aus den Geräuschen der Aggregate und Energiesilos, aus den Bürostimmen und dem Klappern der Kantine sehr eindringliche Töne in außergewöhnliche Violinstimmen, Gitarren und Schlagzeugpointen verwandelt. Es begegnet den Hörenden eine Sinfonie, die gleichsam tastend den wissenschaftlichen und philosophischen Fragen auf Augenhöhe nachspürt.

Der Film hat insgesamt eine unübersehbare dramatische Symbolkraft. Weltsichten, die scheinbar weit auseinander liegen und nichts miteinander zu tun haben, werden sehr nah aneinander gerückt. Die Erforschung kleinster Teilchen unserer Materie kann uns Einsichten vermitteln, den unendlich großen Kosmos zu verstehen. Die Wissenschaft berührt in komplexen Systemen dann philosophische Fragen nach unserer Existenz. Wissenschaftliche Erkenntnisse mutieren zu Wahrheiten, deren Sinnhaftigkeit von unseren subjektiven Betrachtungen überprüft werden. Glaube und Wissen versöhnen sich am Ende in sich ähnelnde ewige Menschheitsfragen. Und Glaube und Philosophie sind ohnehin Techniken, mit unserer sterblichen Existenz irgendwie fertig zu werden.
Kunst und Wissenschaft können diese ganzheitliche Sicht auf die Wirklichkeit befördern und uns tapfer machen gegen die Widrigkeiten des Alltags. Die Gespräche im Film sind ein Angebot, uns den Fragen unserer Existenz zu stellen und sie weiter zu denken.