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Aneesh Chaganty zeigt Sarah Paulson und Kiera Allen im Psychothriller „Run“ als Mutter und Tochter, deren Verhältnis äußerst finstere Abgründe offenbart.

Run (2020)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Mommie Dearest

„Wird sie es schaffen?“, fragt Diane Sherman (Sarah Paulson) ein Team aus Ärzt_innen, als sie ihr sehr schwaches Neugeborenes betrachtet. Die Antwort hören wir nicht. Stattdessen werden diverse Krankheiten – darunter Arrhythmie, Hämochromatose und Paralyse – samt Kurzdefinitionen eingeblendet. Als Nächstes sehen wir eine Spenderbox für Taschentücher, ultra soft. Diese wird in einer Elterngruppe herumgereicht. Und tatsächlich wäre es nach diesem Einstieg denkbar, dass „Run“ ein tränenziehendes Melodram wird. Doch Diane reicht die Taschentuchbox nach einer Mini-Ansprache entschlossen weiter. Ihre Tochter Chloe (Kiera Allen), inzwischen 17, werde aufs College gehen, sobald die Zusagen einträfen. Und sie mache sich „null Sorgen“.

Als wir Chloe daraufhin kennenlernen, können wir Dianes Zuversicht durchaus nachvollziehen. Denn die junge Frau, die im Rollstuhl sitzt und diverse Tabletten einnehmen muss, meistert ihren Alltag ziemlich gut. Und das Mutter-Tochter-Duo scheint sich blendend zu verstehen. Aber so entschieden und rasch der Regisseur und Drehbuchautor Aneesh Chaganty den Verdacht auf ausschweifend großes Drama beiseiteschiebt, so deutlich streut er vom ersten Moment an Hinweise auf ein anderes Genre ein: den Thriller, an der Grenze zum Horror. Der von Torin Borrowdale komponierte Score könnte ohne Weiteres zur Untermalung eines Gruselhaus-Films im Stil von Conjuring – Die Heimsuchung (2013) dienen.

Es ist deshalb kein Spoiler, wenn man verrät: Diane ist ganz und gar nicht die liebevolle, fürsorgliche Mutter, die sie vorgibt zu sein. Es sind noch keine 15 Filmminuten vergangen, da hegt Chloe – nach all den Jahren – bereits den schlimmen Verdacht, dass ihre Mom etwas vor ihr verbirgt und dass mit der Medizin, die sie täglich nimmt, womöglich etwas nicht stimmt. Vieles daran ist äußerst spannend. Wenn es kein maskierter Killer und kein Monster, sondern ein Elternteil ist, vor dem man sich als junger, noch nicht völlig selbstständiger Mensch fürchten muss, ist das auf einer emotionalen Ebene noch mal um ein Vielfaches ungeheuerlicher, weil eine vermeintliche Gewissheit – die Liebe der Eltern – angetastet, entrissen und zerstört wird.

Chloe muss erkennen, dass sie zu einer Gefangenen im eigenen Haus geworden ist. Ihre gesundheitliche Situation lässt an Rob Reiners Stephen-King-Adaption Misery (1990) denken. Und auch andere Thriller der 1990er Jahre, etwa Der Feind in meinem Bett (1991) über einen gewalttätigen Ehemann oder Die Hand an der Wiege (1992) über ein verdammt böses Kindermädchen, könnten bei der Sichtung von Run in den Sinn kommen. Was der Film mit diesen Werken teilt, ist eine überaus souveräne Umsetzung von Suspense-Sequenzen. Bereits mit seinem Langfilmdebüt Searching (2018) hat Chaganty sein Talent für eine mitreißende Inszenierung bewiesen. Und dies setzt er eindrücklich fort: Wenn Chloe einen gemeinsamen Kinobesuch nutzen will, um in der nahe gelegenen Apotheke eine Information zu erhalten, ist es geradezu unmöglich, nicht mitzufiebern. Auch Chloes zunehmend beschwerlicherer Überlebenskampf, als die Dinge immer mehr eskalieren, zeichnet sich durch einwandfreie Regiearbeit aus.

Was Run allerdings ebenfalls mit etlichen 1990er-Jahre-Reißern verbindet, ist ein zuweilen recht flaches Skript. Das Drehbuch, das Chaganty (wie schon für Searching) zusammen mit Sev Ohanian verfasst hat, opfert der Spannung dann doch allzu oft die Glaubwürdigkeit und – viel schlimmer – die Tiefe. Sarah Paulson hat durch ihre furiosen Auftritte in der 2011 gestarteten Anthologie-Serie American Horror Story bereits zahlreiche Facetten von Psychopathie ausagieren dürfen. Eine neue, wirklich interessante kommt mit ihrer Verkörperung in Run leider nicht hinzu. Der Film kümmert sich herzlich wenig um Motivation. Alles, was man an Background wissen muss, ist natürlich im dunklen Keller versteckt und kommt im „richtigen“ Moment (denkbar uninspiriert) zum Vorschein. Und schließlich mündet die Geschichte in einen finalen Twist, der in seiner Auge-um-Auge-Logik schlichtweg abgedroschen und ärgerlich ist. Können wir derart reaktionäre Narrative bitte irgendwann mal überwinden?

Dass Run dennoch als sehenswert bezeichnet werden kann, liegt neben Chagantys gekonnter Inszenierung an der Newcomerin Kiera Allen. Die Schauspielerin, die auch im echten Leben einen Rollstuhl nutzt, stattet ihre Figur mit so viel Cleverness aus, dass man sie gern in einer weniger klischeehaften Story erlebt hätte. Jeder zunächst leicht zweifelnde, fragende Blick und jede Geste der schrecklichen Erkenntnis wird von ihr treffend und eindringlich vermittelt. Eine echte Entdeckung!

Run (2020)

Ein Mädchen im Teenageralter, das zuhause unterrichtet wird, hegt den verdacht, dass ihre Mutter ein dunkles Geheimnis vor ihr verbirgt.

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