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„MMXX“ von Cristi Puiu veranschaulicht die gesellschaftlichen Zustände im titelgebenden Jahr 2020 in Rumänien anhand von vier Kapiteln.

MMXX (2023)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Vier Geschichten

In seinem großen Festivalerfolg „Der Tod des Herrn Lazarescu“ (2005) warf der 1967 in Bukarest geborene Regisseur Cristi Puiu einen kritischen Blick auf das rumänische Gesundheitswesen. Der Film hat in seiner realitätsnahen Bildsprache eine dokumentarische Anmutung – und verblüfft zugleich durch seinen schwarzen Humor, mit dem er die nächtliche Odyssee seines Titelhelden von Krankenhaus zu Krankenhaus einfängt. Mit seiner 2020 uraufgeführten Arbeit „Malmkrog“ lieferte Puiu hingegen ein in mehrere Kapitel aufgegliedertes Kammerspiel.

In Puius neuem Werk MMXX sind all diese Elemente enthalten. Die Geschichte besteht aus vier Teilen, die ein paar personelle und thematische Überschneidungen aufweisen. Drei davon spielen in klar begrenzten (Innen-)Räumen, von denen sich einer in einem Krankenhaus befindet. Und abermals zeigt Puiu die eklatanten Missstände in seinem Heimatland auf.

Der Titel des Films ist das römische Zahlzeichen für 2020. In jenem Jahr, auf das die meisten von uns aufgrund der einsetzenden Covid-19-Pandemie wohl eher mit negativen Gefühlen zurückschauen, ist der Plot angesiedelt. Im ersten Abschnitt lernen wir zwei Figuren kennen, die zweifellos Vertreterinnen einer ziemlich privilegierten Position sind.

Die junge Psychotherapeutin Oana Pfifer (Bianca Cuculici) liegt anfangs kopfüber mit ausgestreckten Beinen wie ein „V“ in ihrem Wohnzimmer- beziehungsweise Homeoffice-Sessel, während klassische Musik läuft. Als es klingelt, springt sie auf, räumt schnell das herumstehende Geschirr weg und zieht eine medizinische Maske auf, um eine elegant gekleidete Patientin (Roxana Ogrendil), die Blumen mitgebracht hat, zu empfangen.

Wenn Oana und ihre Patientin im Verlauf dieser Episode einen Fragebogen mit Statements bearbeiten, die auf einer Skala von 1 bis 5 auf ihr Zutreffen hin bewertet werden sollen, kommen viele der Stärken zum Tragen, die Puiu zu einem wichtigen Vertreter der Neuen Rumänischen Welle gemacht haben. So wird beispielsweise in den Aussagen der Frau, die offensichtlich der Oberschicht angehört, allmählich eine egozentrisch-ignorante Sicht erkennbar, die soziale und gesellschaftliche Probleme völlig ausblendet.

Der böse Witz ist dabei ebenso präsent wie die formale Präzision in der Bildkomposition und die gekonnte Schauspielführung. Immer wieder ereignen sich kleine Unterbrechungen, etwa wenn Oanas Bruder Mihai (Laurențiu Bondarenco) unangekündigt auftaucht. Im Kern konzentriert sich diese Eröffnung aber auf zwei Figuren, von denen wiederum eine, die Therapeutin, herrlich unkonzentriert ist, was für diverse Peinlichkeiten sorgt. Puiu gelingt hier mit minimalistischen Mitteln ein kleines, in einer ganz spezifischen Zeit verortetes Gesellschaftsporträt.

Die schwierigen Umstände in der ersten Hochphase der Pandemie werden auch im zweiten Abschnitt beleuchtet, allerdings mit entschieden mehr Bewegung, erfasst mit einer unruhigen Handkamera. Nun steht die Geschwisterdynamik zwischen Oana und Mihai im Zentrum. Eine schwangere Freundin von Oana wurde ins Krankenhaus eingeliefert und hat ein positives Corona-Testergebnis. Etliche Telefonate werden mit zunehmender Hektik geführt.

Dabei vermittelt sich eindrücklich die Rat- und Hilflosigkeit, die gewiss viele in dieser Phase empfunden haben. Informationen und Fragen werden ununterbrochen am Telefon wiederholt, was für uns als Zuschauende auf Dauer zu einer ermüdenden Angelegenheit wird, die Situation jedoch sehr treffend demonstriert.

In der dritten (und schwächsten) Episode liegt Oanas Mann Septimiu (Florin Țibre), ein angehender Mediziner, mit seinem Kumpel und Kollegen Giani (Dorian Boguţă) in einem Ruheraum eines Krankenhauses – und befürchtet, sich mit Covid-19 infiziert zu haben. Die Unterhaltung der beiden Männer über ein einstiges Liebesabenteuer von Giani wirkt authentisch, fällt gegenüber den zwei vorherigen Teilen aber deutlich ab.

Das vierte Kapitel wendet sich hingegen einem gänzlich anderen Milieu zu, wenn wir dem Ermittler Narcis Patranescu (Dragoș Bucur) folgen, der sich mit einem verwickelten Fall von Organhandel auseinandersetzen muss. Die Zeichnung des Umfeldes gelingt hier durchaus beachtlich; dennoch ergibt MMXX als 160-Minüter nach dieser letzten Abzweigung im Endeffekt nicht unbedingt ein stimmiges Ganzes.

An die Kraft von Bad Luck Banging or Loony Porn (2021) von seinem Landsmann Radu Jude, der ebenso die Auswirkungen der Pandemie in Rumänien behandelt, vermag Puiu mit diesem Film nicht heranzureichen. Als Zeitdokument, für das wir womöglich noch nicht vollends bereit sind, da alles noch ein bisschen zu nah an uns dran ist, ist das Werk fraglos bemerkenswert. MMXX repräsentiert eine Form von Kino, die aus den Ereignissen der vergangenen Jahre heraus geboren wurde. Puiu gibt uns die Möglichkeit, uns damit konfrontieren zu lassen – was nicht einfach, aber vielleicht nötig ist.

Gesehen beim Internationalen Filmfestival von San Sebastián.

MMXX (2023)

Eine junge Therapeutin, die sichtlich abgelenkt ist, ihr jüngerer Bruder, der sich Sorgen um seinen Geburtstag macht, ihr Mann, der über eine mögliche Ansteckung mit Covid-19 besorgt ist, und ein Ermittler für organisierte Kriminalität: die Irrwege einer Gruppe verirrter Seelen.

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