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Ein Dorf, isoliert und auf sich selbst bezogen, mit eigenen Gesetzen: Hier nimmt Skalde ein junges Mädchen bei sich auf; die Dorfbewohner argwöhnen Unglück und Bosheit – es könnte ein Wolfskind sein.

Milchzähne (2024)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Ein Mädchen aus dem Wald

Als es aus dem Wald kommt, bringt Skalde (Matilde Bundschuh) es erst einmal zurück, schnurstracks. Mit einem fremden Mädchen will, kann sie nichts zu tun haben. Später nimmt sie es bei sich auf: Es heißt Meïsis (Viola Hinz), und es muss sich verstecken, darf auf keinen Fall gesehen werden. Tiere wurden gerissen, ein Widder liegt zerfetzt am Flussufer. War es der Dorfsäufer? Mutmaßlich – er muss die Strafe, die das Gesetz vorschreibt, bekommen. Die linke Hand wird ihm mit einem Hammer zertrümmert. Spätestens an diesem Punkt merkt der Zuschauer, dass „Milchzähne“ nicht einfach eine merkwürdige Geschichte von merkwürdigen Menschen ist, die irgendwo im Wald hausen, alleine, abgeschirmt, nein: Es ist die Geschichte einer merkwürdigen Dorfgemeinschaft, die irgendwo im Wald haust, die sich abschirmt, um alleine zu bleiben, autonom und unbelastet vom Außen.

Ein Rat beherrscht das Dorf, Vorsteher ist Pesolt (Ulrich Matthes), der sehr freundlich ist und zugleich unerbittlich. Er will das Kind Meïsis weghaben; er konfrontiert Skalde. Skalde pariert erstmal, vordergründig, sie kooperiert, sie weiß aber auch: Die Milchzähne werden es zeigen.

Skalde lebt bei ihrer Mutter (Susanne Wolff); die ist die Fremde, nach 20 Jahren noch, und offenbar war sie einmal aufmüpfig – ihre linke Hand kann sie nicht mehr gebrauchen. Die Hunde des Dorfes laufen ihr zu. Skalde steckt mittendrin, zwischen dem Leben bei und mit der Mutter und dem Leben im Dorf, dem sie sich anzupassen angewöhnt hat.

Sophia Bösch entwirft, nach dem gleichnamigen Roman von Helene Bukowski, eine ganz besondere Welt, und sie zeigt diese Welt nicht als etwas Besonderes. Hier lebt man, wie man lebt, es gibt nichts anderes. Es gibt Autos, es gibt Strom, ganz normal – und es gibt Tauschhandel, es gibt strenge Gesetze, es gibt Aberglaube. Es gibt Abschottung und die Abwehr alles Fremden. Wobei – dies ist nicht entwickelt als eine direkte Parabel, die konkret auf eine derzeitige rechtsreaktionäre Tendenz in der Gesellschaft weist, vielmehr geht Milchzähne fast schon in Richtung Folk-Horror, naja: Folk-Mysterythriller. Es ist möglicherweise Zukunft, möglicherweise Postapokalypse – es ist aber vor allem Wald und Märchen und Mythos, ein Mythos, der perfekt erfunden ist, nämlich rudimentär, vage, aber kraftvoll.

Wolfskinder soll es geben, angeblich, sie kommen aus dem Wald, ersetzen Menschenkinder, bringen Unglück und das Böse. Meïsis ist über die brennenden Felder gekommen, über die Ebene, von da soll keiner kommen, Eggert untersucht ihre Zähne und ihre Haare. Und Skalde handelt aus: Sie ist in dem Alter, an dem die ersten Zähne ausfallen – und Wolfskinder haben keine Milchzähne, sondern kleine, spitze, permanente Reißer. Sechs Monate Zeit erreicht sie gegenüber Eggert – doch die Dorfbewohner lassen diese Zeit nicht. Zumal zwei andere Kinder verschwinden. Und die Sache mit dem gerissenen Wild noch immer nicht geklärt ist.

Eine faszinierende Welt tut sich auf, nicht hopplahopp, sondern mit allmählicher Abgründigkeit – eine archaische Welt, eine autoritäre, patriarchalische Welt – die aber doch nicht böse ist, nicht das „Andere“ an sich verteufelt. Im Dorf gibt es zwei alte Frauen, die vertraut miteinander leben, und Eggers Tochter erklärt Skalde ihre Liebe. Vielmehr ist das Fremde das Feindliche, für dieses Dorf zumindest – man ist sich selbst genug. Hat man Erfahrungen gemacht, früher?

Skalde wird von Meïsis geliebt, von diesem verschlossenen Mädchen. Die Versuche, sich und sie im Dorf zu integrieren, schlagen fehl. Zu stark sind die Ängste, dass die Kinder anders sind als die Eltern, dass das Böse von außen kommt. Zu sehr ist Skalde Außenseiterin, sie, die nur den Makel hat, dass ihre Mutter Außenseiterin ist.

Milchzähne baut auf dieser Grundlage seine durchgehende, unheimliche Spannung auf, die bis zum Schluss nicht nachlässt. Ein starker Debütfilm.

Milchzähne (2024)

An einem Ort und zu einer Zeit nicht fern von unserer, ist die Natur nicht mehr großzügig. Misstrauen und Aberglaube beherrschen eine isolierte Gemeinschaft von Übriggebliebenen. Plötzlich steht ein fremdes Kind im Wald. Um es zu retten müssen Skalde (19) und ihre Mutter Edith nach Jahren der Entfremdung wieder zusammenhalten.

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Meinungen

Martin · 31.01.2024

Schöne Kritik!
Doch der Name des "Vorstehers" im Dorf ist Pesolt, nicht Eggert. Das sollte bitte korrigiert werden.
Danke!