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Die Mutter hat den Holocaust überlebt. Die Kinder haben das Trauma geerbt. Die Tochter kommt ins Gespräch mit der Mutter: Mehrere Leben müssen geordnet werden.

Liebe Angst (2022)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Familienzusammenführung

Kim wohnt in Berlin. Im Haus schräg gegenüber, da hat einmal ihre Mutter gelebt. Kim hat eine ordentliche Wohnung, sie ist Künstlerin, sie singt. In der Wohnung ihrer Mutter liegt alles durcheinander, Zeitungen, Karteikarten, ein ganzes Leben. Lore ist Kims Mutter. Lore hat ihre Mutter verloren, 1942 wurde sie abgeholt. Lore wurde als Kind versteckt, ihr Leben hat sie behalten, ihre Identität wurde zerbrochen. In Kim lebt die Tragödie weiter.

Liebe Angst: Zwischen Liebe und Angst spielt sich die Beziehung zwischen Kim und Lore ab, das Trauma. Liebe Angst: Die Angst kann angesprochen werden, sie ist Teil des Lebens, geht nie weg; vielleicht hilft sie ja.

Es geht um Erinnerung, um Ordnen des Vergangenen. Lore versucht, alles, was sie liest, zu notieren, zu katalogisieren. Ihr eigenes Leben hat sie fließen lassen, konnte es nie fassen. Ihre Kinder – Kim und Tom – sind wild und frei aufgewachsen. Haltlos. Orientierungslos. Auch bisweilen mutterlos. Es setzt sich fort; was die Nazizeit aufgerissen hat, kann nicht geschlossen werden, ist fruchtbar noch und furchtbar.

Die Mutter, die Tochter, das Frühere und das Jetzt, die Schläge, die das Leben austeilt, die Risse in Beziehungen. Trauma, Depression, Selbstmord, Tod. Der Bruder fehlt. Die Mutter trauert anders als die Schwester. Doch darüber konnten sie sich wieder annähern.

Die Mutter will nicht mehr viel wissen, will nicht mehr viel aufwühlen von damals. Die Tochter lebt das Vergangene, das in Denken und Fühlen gegenwärtig ist, in ihrer Kunst aus. Sie singt die Namen von Holocaust-Opfern. Leben kann sie davon kaum. Sie führt Hunde aus.

Sandra Prechtel hat den Film gemeinsam mit Kim Seligsohn als Co-Autorin gedreht. Kim will aufarbeiten, nicht nur für sich, auch für den Film, für das Publikum, für die Nachwelt. Liebe Angst ist ein kleiner Film geworden, ein wichtiger Film, ein intensiver Film: Ein Film, der so persönlich daherkommt, in dem sehr offen Seelen ausgebreitet werden. Der die Judenvernichtung, seelische Wunden, Familie, Zeitgeschichte in Beziehung setzt, der das Gespräch über all dies ermöglicht.

Liebe Angst (2022)

Kim hat ihre Musik, Kim hat ihre Hunde, Kim hat ihren Glauben. Kim kämpft, jeden Tag. Gegen die Angst, um ein Stück Normalität, um den Boden unter den Füßen. Kim ist die Tochter von Lore. Lore war sechs Jahre, als ihre Mutter nach Auschwitz deportiert wurde. Lore ist eine „DP“ – eine Displaced Person, bis zum heutigen Tag. Lore hat ihre Karteikarten. Von morgens bis abends schreibt sie Artikel aus dem Weser-Kurier ab, archiviert sie in Kisten, Körben und Kartons. Ein Leben lang hat Lore nicht gesprochen: nicht über ihre Mutter, nicht über das Versteck, in dem sie überlebt hat, nicht über Tom, ihren Sohn, Kims Bruder, der sich das Leben genommen hat. Aber Kim will reden: über die Kindheit mit Lore, über Tom, über die beschädigten Leben beider. Da ist viel Wut, viel Kraft, und eine Liebe zwischen Mutter und Tochter, die immer da war, aber nicht gelebt werden konnte. (Quelle: Filmfest München 2022)

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Meinungen

Annetraut Lutz-Weicken · 23.04.2023

Ein tiefgreifender, ergreifender Film in dem Frau Seligsohn verstehen will, wo all der Schmerz in ihr enstanden ist der ihrem Bruder das Leben gekostet hat. Sie will das sprachlose Leid in Worte fassen, um sich und ihre Mutter zu heilen, die Traumata des 3. Reichs benennen, die uns alle betreffen. Ein großartiger, mutiger Film.

Ursula Wolf · 29.06.2022

Der Schnitt wurde gemacht von ANDREAS
Zitzmann!