Log Line

Wo kommt man heraus, wenn man als jüdische Frau in den Welten des 20. Jahrhunderts nie richtig ankommt? Jeanine Meerapfel rekonstruiert den facettenreichen Lebensweg ihrer Mutter Marie-Louise als poetisch-tiefsinniges Familienessay zwischen Frankreich, Deutschland, den Niederlanden und Argentinien.

Eine Frau (2021)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Verschüttete Vergangenheit

Marie-Louise Chatelaine war eine schöne Frau. Jeanine Meerapfels Mutter war allerdings auch eine zeitweise verschlossene wie stetig abhängige Frauengestalt, dessen unstete Vita durchgängig mit den (gesellschafts-)politischen Zeichen der Zeit aufs Engste verknüpft war. „Es springt mich die Notwendigkeit an, Erinnerung zu verarbeiten und eine endgültige Ordnung zu finden“, beginnt Meerapfels wunderbar assoziative Spurensuche nach der Identität ihrer Mutter – wie ihren eigenen familiären Wurzeln („Es gibt Wunden, die sich nicht schließen“). 

„Ich suche nach einer Erinnerung. Ich suche nach einem kohärenten Bild der Vergangenheit“, setzt der mal konzentriert, mal davon mäandernd vorgetragene Off-Kommentar der Regisseurin fort, der ihr sehenswertes Dokumentarfilmpoem Eine Frau lose strukturiert. Ehe in Meerapfels dezidiert gedankenvoller und weitgehend soghafter Filmreise wieder das jeweils nächste Kapitel aufgeschlagen wird, in dem wiederholt fragile Erinnerungen an reale Orte und Menschen aufblitzen. Genauso wie an innere Landschaften oder parallel stattgefundene zeithistorische Verschüttungen, die ihren eigenen Lebensweg (wie den ihrer Mutter) markieren. 

„Von was träumte Malou?“, möchte die international prämierte Filmemacherin (Malou/Die Kümmeltürkin geht/Im Land meiner Eltern) wissen, die nach langer Lehrtätigkeit als Film- und Fernsehprofessorin an der Kölner Kunsthochschule für Medien seit 2015 zudem als Präsidentin der Berliner Akademie der Künste fungiert. „Sie war blond, zierlich… Manchmal sah sie auch leicht melancholisch aus“. So erinnert sich Jeanine Meerapfel an ihre 1911 geborene Mutter, die wiederum früh ihre Eltern verlor, im Anschluss selbst eine Familie gründete, zwei Töchter bekam, aber dann von ihrem Mann Carl/Carlos verlassen wurde und am Ende vereinsamt in ihrer extrem feuchten Wohnung starb. 

Beginnend im französischen Burgund und Elsass, über biografische Marksteine in Baden-Württemberg und Amsterdam reichen ihre ersten Lebensstationen, bis sie als Jüdin ins Exil gezwungen wird und zusammen mit vielen Familienmitgliedern in den 1940ern im fernen Südamerika noch einmal völlig neu anfängt. Anhand ihrer facettenreichen biografischen Weggabelungen erzählt Jeanine Meerapfel, die 1943 in Buenos Aires zur Welt kam, im Subtext auch sehr viel über das Frausein im 20. Jahrhundert. Also in einer zwar anfangs wohlhabend-mondänen Zeit für die Meerapfels, ohne dass sich Marie-Louise Chatelaine, genannt: Malou, von ihrem Mann jemals emanzipieren konnte. So lernte sie zwar einerseits Schifahren im noblen Davos oder Tennisspielen in elitären Zirkeln. Andererseits verfiel sie im fatalen Spiel der Abhängigkeiten zusehends dem Alkohol. So war sie doch im Kern immer wieder auch eine verzweifelte Persona – und vielleicht nicht immer Herrin ihrer Sinne. 

In wundersam reduzierten (Bildgestaltung: Johann Feindt), im Wortsinn fließenden und nur selten poetisch überhöhten Passagen („Wenn man nach einer solchen Geschichte sucht, findet man überall solche Zeichen“), als beispielsweise eine abstrakte Figur aus Licht und Schatten an einer Hausmauer zutage tritt, gleicht Eine Frau einer komplexen Familiensaga des 20. Jahrhunderts. 

Mit assoziativ montierten Sequenzen (Schnitt: Vasso Floridi) und dezentem Sounddesign (Musik: Floros Floridis) ist Jeanine Meerapfel ein wahrhaft ausufernder Gedankenreigen übers Aufwachsen und Emigrieren wie übers Vergessen und Reflektieren gelungen, der seine fesselnden narrativen Leerstellen mitunter offensiv zur Schau stellt und den Erzählbogen bis in die Gegenwart schlägt. Den Fokus auf die Wunden des Exils wie das Ende des Familienfriedens legend sucht die Berliner Regisseurin im Grunde auch nach ihrer eigenen femininen Identität. 

Als sehenswerte Reflexion über die Einzigartigkeit („24 Mal Fischbesteck…“) wie Brüchigkeit von Erinnerung („Die Vorstellung ist so absurd, dass ich sie für realistisch halte“) changiert Meerapfels eindringlicher Familienfilmessay unentwegt von einem point of view zum nächsten, weil er im Geiste Walter Benjamins operiert, der meinte: „Wer sich seiner eigenen verschütteten Vergangenheit nähern will, muss sich wie ein Mensch verhalten, der gräbt.“ Und so verhandelt Eine Frau die einmalige Unschärferelation des eigenen Gedächtnisses wie des persönlichen Empfindens in filmisch eindrucksvoller Manier. Ein Glück, wer sich auf diese Seelenreise einlässt: Phantomsplitter ausdrücklich inbegriffen. 

Eine Frau (2021)

Sie wollte so sehr glücklich sein. Und zunächst sah es gut für sie aus, als sie als hübsches Waisenkind mit blauen Augen und einem sonnigen Lächeln Carlos traf. Aber nach dem Ende der großen Liebe stand Malou alleine mit zwei Kindern da. In einem Land, das sie nicht kannte. Sie starb einsam mit 61 Jahren in einem feuchten Haus an Nierenversagen. Jeanine Meerapfel versucht die eigenen, verschütteten Erinnerungen an die Lebensstationen ihrer Mutter in Deutschland, Frankreich und Argentinien zusammenzusetzen. Das dokumentarische Essay ist ein persönlicher Blick in die Vergangenheit und Familiengeschichte. Wundervoll, wie sich die Erinnerung an die Mutter mit Zeitgeschichte verschränkt und dadurch eine größere Dimension eröffnet. (Quelle: DOK.fest München)

  • Trailer
  • Bilder

Meinungen