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Marianne Atzeroth-Freier, eine der ersten Frauen bei der Hamburger Mordkommission, überführte in den 1990er Jahren den sogenannten „Säurefassmörder“ Lutz R. mehrerer Femizide. Ihr Stiefsohn Matthias Freier zollt ihr nun die lange überfällige Anerkennung.

Die Unsichtbaren (2023)

Eine Filmkritik von Stefanie Borowsky

Unbeirrbare Ermittlerin

Als Marianne Atzeroth-Freier 1978 mit vier weiteren Frauen bei der Polizei anfängt, gilt sie als Pionierin: Mit den fünf Frauen starten in ihrem Jahrgang 375 Männer in den Polizeidienst. „Bei der Hamburger Kriminalpolizei sind Frauen bei der Ganovenjagd genauso erfolgreich wie die Kollegen vom starken Geschlecht“, wundert man sich damals in der Presse und schlussfolgert: „Damen in Polizeiuniform taugen nicht nur zum Aufschreiben von Parksündern.“ Denn – Überraschung: „Die Schießergebnisse der Frauen sind ähnlich gut wie bei den Männern. Einige treffen sogar meist ins Schwarze.“

Unbeirrt und allen geschlechtsspezifischen Vorurteilen zum Trotz macht Marianne Atzeroth-Freier Karriere bei der Polizei. 1981 wird sie Kripobeamtin, geht danach zur Sitte und wechselt neun Jahre später zur Mordkommission. Dort sind die Kollegen wenig angetan, nun plötzlich eine Frau in ihrem Team zu wissen. „Frauen können das hier nicht. Das können sie gar nicht mit dem Haushalt vereinbaren“, muss sich Atzeroth-Freier anhören. Doch sie beißt sich durch.

1991 ist sie als Teil einer Verhandlungsgruppe in den Entführungsfall von Christa S. involviert. Es ist der Fall, der Atzeroth-Freiers Polizeikarriere prägen wird. Während die ermittelnden männlichen Polizeibeamten Christa S. als nicht glaubwürdig einstufen, nimmt Atzeroth-Freier die Aussagen des ungeplant vom Täter freigelassenen Entführungsopfers ernst und hört zu. Christa S.’ Lebenspartner, ein Kürschner, dessen erste Ehefrau 1986 unter mysteriösen Umständen verschwunden ist, bringt Lutz R., einen seiner ehemaligen Lehrlinge, als möglichen Täter und Rache als Motiv ins Spiel, denn er hat ihn nach einem Täuschungsversuch durch die Prüfung fallen lassen. Es ist Marianne Atzeroth-Freier, die den Hinweis auf Lutz R. für die ermittelnden Kollegen vermerkt.

Als der Entführungsfall vor Gericht verhandelt wird, spricht eine ältere Dame Marianne Atzeroth-Freier an: Ihre verschwundene Tochter Annegret habe Lutz R. gekannt. Bei Atzeroth-Freier schrillen die Alarmglocken. Auf eigene Faust recherchiert sie – und entdeckt frappierende Parallelen zwischen den Briefen, die Annegret B. und Hilde K., die erste Ehefrau des Kürschners, an ihre Angehörigen schrieben und in denen sie vorgaben, freiwillig weggegangen zu sein. Für Atzeroth-Freier steht fest: Die Fälle müssen miteinander zusammenhängen – und die Spur führt zu Lutz R.

Doch bei ihren männlichen Kollegen stößt sie auf Unverständnis. Sie tun ihre vielversprechenden Ermittlungsansätze mit lapidaren Bemerkungen ab, lachen sie aus. Wie es Marianne Atzeroth-Freier dennoch schließlich gelang, eine der grausamsten Femizid-Serien in der Geschichte der Bundesrepublik aufzuklären, zeichnet Regisseur Matthias Freier, der bisher vor allem Musik- und Werbevideos drehte, in seinem gründlich recherchierten Dokumentarfilm über seine Stiefmutter und deren Arbeit nach. Dabei legt er den Fokus – genau wie Marianne Atzeroth-Freier in ihren Ermittlungen – auf die Perspektive der Opfer.

Die 2017 verstorbene Marianne, von Freund*innen und Familie Janne genannt, lässt er selbst sprechen, indem er Tonaufnahmen von Interviews einspielt, die er mit ihr führte, und währenddessen immer wieder einen Kassettenrekorder einblendet. Auch Jannes schriftliche Aufzeichnungen und Originaldokumente aus der Polizeiarbeit wie etwa Fotos aus den Akten, Mitschnitte von Telefonaten und Videoaufnahmen der Sonderkommission, der sie angehörte, berücksichtigt Freier. Mit Schauspieler*innen – vor allem mit Constanze Andree als Marianne – nachgestellte Szenen durchziehen den Film und vermitteln ein lebendiges Bild von Atzeroth-Freier in ihrem – im Stil der 1980er- und 90er-Jahre nachgebauten – patriarchalischen Arbeitsumfeld.

Darüber hinaus spricht Freier auf respektvolle, nie sensationshungrige Art mit ehemaligen Kolleg*innen, Weggefährt*innen und Freund*innen sowie Expert*innen, u. a. vom Weißen Ring, und lässt auch Angehörige der Opfer ausführlich zu Wort kommen. So vermitteln etwa der ehemalige Lebensgefährte von Annegret B. und ihre beiden Nichten einen Eindruck davon, welche Wunden die Femizide auch Jahrzehnte später hinterlassen haben. Besonders erschütternd: Hätten die – männlichen – Polizeibeamten die Aussagen des Lebensgefährten und der Mutter von Annegret B. damals ernster genommen, hätte man die junge Frau noch retten können, denn beide ahnten, Lutz R. könne etwas mit Annegrets Verschwinden zu tun haben.

Im Gegensatz zur in den Medien u. a. als „voyeuristisch“ und „misogyn“ kritisierten, 2023 erschienenen Amazon-True-Crime-Serie „Gefesselt“, die um Lutz R. und seine Gewaltfantasien kreiste und ihm so eine Bühne bot, verzichtet Freier darauf, die allzu grausamen Details der Taten auszustellen. Statt dem Täter, der sich bis heute in Sicherheitsverwahrung befindet, Aufmerksamkeit zu verschaffen, geht es Freier um „Die Unsichtbaren“ – um Janne und um die Opfer und deren Hinterbliebene.

Indem er mit Marianne Atzeroth-Freier eine der ersten Frauen bei der Hamburger Mordkommission und deren Leistung würdigt, setzt er seiner Stiefmutter, die für ihren Ermittlungserfolg nie offiziell ausgezeichnet wurde, ein filmisches Denkmal. Dabei zollt er nicht nur ihrer ausgezeichneten Arbeit endlich die verdiente Anerkennung, sondern macht auch die Frauen wieder sichtbar, die nachweislich Opfer der brutalen Femizide und der Entführung durch Lutz R. wurden: Annegret B., Hilde K. und Christa S.

Die Unsichtbaren (2023)

Marianne Atzeroth-Freier überführte einst den „Säurefassmörder“. In einer Mischung aus Archivaufnahmen und nachgestellten Szenen rekonstruiert der Film die schwierigen Ermittlungen der Polizistin in einem männerdominierten Umfeld. Als eine der ersten Frauen bei der Hamburger Mordkommission löste Atzeroth-Freier in den 1990er-Jahren einen der grausamsten Mordfälle der deutschen Kriminalgeschichte. Eher durch Zufall. Als sie in einem Entführungsfall von einer Mutter angesprochen wird, deren Tochter verschwunden ist, entschließt sie sich, ihr zu helfen. Bei der Suche nach der Vermissten stößt sie immer wieder auf Ungereimtheiten innerhalb des Polizeiapparats. Doch sie ermittelt unbeeindruckt weiter – bis ihr der Durchbruch gelingt. (Quelle: Filmfest Hamburg)

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Meinungen

Regina P. · 17.02.2024

Die Unsichtbaren (2023) von Matthias Freier
Eine unfassbar fesselnde Dokumentation von der Kriminalbeamtin Marianne Atzeroth-Freier, die gegen den Widerstand einiger Kollegen in der Mordkommission den Fall Lutz R. (Säurefassmörder) aufgeklärt hat. Im Kino herrschte absolute Stille, da es so eine ergreifende und fesselnde Dokumentation ist. Diesen Film sollte jeder sehen. Danke, Matthias Freier für diese tolle "DOKU". R.P.