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Durch die Augen eines jungen Berliner Ethnologen erzählt Lars Kraume von der Kolonialgeschichte im einstigen Deutsch-Südwestafrika, die noch heute oft verdrängt wird. Ein lobenswertes Unterfangen, das allerdings den Leidtragenden der Fremdherrschaft zu wenig Raum gewährt.

Der vermessene Mensch (2023)

Eine Filmkritik von Christopher Diekhaus

Wissenschaft als Komplizin der Macht

Die Aufarbeitung des NS-Grauens ist im deutschen Kino fest verankert, wird und wurde aus vielen verschiedenen Blickwinkeln beleuchtet. Ähnlich verhält es sich mit den Schrecken der DDR-Vergangenheit. Was aber ist mit unserer ebenfalls noch verhältnismäßig frischen Kolonialgeschichte? Der Unterdrückung, die bei den Einheimischen in Deutsch-Südwestafrika auf dem Gebiet des heutigen Namibias zwischen 1884 und 1915 für großes Leid sorgte? Beschämenderweise gab es bislang keine Bemühungen, diesem düsteren Zeitabschnitt filmisch ernsthaft nachzuspüren. Namibia als Handlungsort tauchte fast nur in seichten Melodramen wie der ARD-Trilogie „Folge deinem Herzen“, „Für immer Afrika“ und „Afrika im Herzen“ auf. 

Dass der in historisch-politischen Stoffen erfahrene Regisseur und Drehbuchautor Lars Kraume (Das schweigende Klassenzimmer) mit Der vermessene Mensch nun einen dringend überfälligen Versuch unternimmt, ist absolut begrüßenswert. Auch und gerade vor dem Hintergrund der seit einigen Jahren geführten Diskussionen um geraubte afrikanische Kunstwerke, die noch immer in deutschen Museen lagern. Diskussionen, in denen leider eines deutlich wird: Politik und Wissenschaft tun sich nach wie vor schwer, Verantwortung klar zu benennen und den Restitutionsprozess beherzt voranzutreiben. 

Die wohl schwierigste Frage, vor der Lars Kraume stand, war die der Perspektive: Wen lasse ich vom Horror der Kolonialzeit erzählen? Entschieden hat er sich für die Option, die ihn am wenigsten angreifbar macht. Als weißer Mann blickt er in seinem Drehbuch durch die Augen eines fiktiven jungen Ethnologen, der in den von deutschen Soldaten verübten Völkermord an den Herero und Nama verwickelt wird.

Alexander Hoffmann (Leonard Scheicher) heißt der ambitionierte Doktorand, der seinem verstorbenen Forschervater nacheifert und als ein Mann auftritt, der Konventionen hinterfragt. Obwohl verarmt und von seiner Mutter zu einer Hochzeit mit einer Frau aus reichem Hause gedrängt, will er sich seinen Weg nicht vorschreiben lassen und gelangt zu Ansichten, die am Ende des 19. Jahrhunderts vorherrschenden Eurozentrismus kratzen. Im Rahmen der Berliner Kolonialausstellung von 1896, bei der Herero- und Nama-Angehörige wie Zirkusattraktionen vorgeführt werden, lernt er Kezia Kambazembi (Girley Charlene Jazama) kennen, die für eine bei Kaiser Wilhelm II. vorsprechende Delegation als Dolmetscherin fungiert. An ihrem Beispiel versucht er, seine Forscherrunde von den Fehlannahmen der evolutionistischen Rassentheorie zu überzeugen, wonach die angeblich kleineren Schädel der Afrikaner*innen Belege für fehlende Intelligenz und damit Unterlegenheit gegenüber den Weißen seien. Ein Vorstoß, den sein Mentor Professor von Waldstätten (Peter Simonischek) als haltlos zerstreut. 

Die aus Hoffmanns Sicht entstandene Freundschaft mit Kezia, der Schmerz beim Abschied und sein wissenschaftliches Interesse veranlassen ihn acht Jahre später dazu, in die Kolonie zu reisen, wo die deutschen Schutztruppen gerade einen Aufstand der brutal unterjochten Herero und Nama niederschlagen. Als Begleiter der kaiserlichen Armee soll der Ethnologe wertvolle Artefakte für das Berliner Völkerkundemuseum sammeln – und wird sehr schnell erfasst von der Grausamkeit des Vernichtungskrieges.

Zunächst einmal ist es löblich, dass Kraume aus seinem Protagonisten keinen seiner Zeit weit vorauseilenden Helden macht. Alexander mag mehr Verständnis für Kezia und ihre Landsleute aufbringen als sein von Peter Simonischek erschütternd herablassend gespielter Professor. An seiner erhabenen Position als Welterklärer zweifelt der junge Forscher jedoch nicht. Mehr noch: Im Verlauf der Handlung – so viel sei verraten – zeigt sich, wie stark das von weißer Überlegenheit ausgehende Denken ist. Der Film setzt uns eine ambivalente, moralische Grenzen überschreitende Hauptfigur vor, die keine bilderbuchmäßige Entwicklung durchläuft, hat im Zentrum aber einen Darsteller, der die Facetten nicht immer überzeugend transportiert. Auch wenn sich Leonard Scheicher redlich müht, wirkt er manchmal zu gestelzt und glatt.

Dass die damalige Wissenschaft mit ihrer Rassenlehre die Mächtigen tatkräftig unterstützte und den Menschen aus Afrika keineswegs auf Augenhöhe begegnete, sie als Studienobjekte missbrauchte, arbeitet der Regisseur deutlich heraus. Recht schwammig bleiben dafür andere Dinge, etwa die Lage in der Kolonie und die Konflikte, die zum Aufstand der Herero und Nama führten. Der Völkermord in seiner ganzen Dimension – bis zu 100.000 Einheimische fielen ihm zum Opfer – wird nicht greifbar, was natürlich auch produktionstechnische, sprich: finanzielle Gründe hat. 

Das größte Problem von Der vermessene Mensch liegt jedoch in der Darstellung der afrikanischen Charaktere. Der Einstieg stimmt noch zuversichtlich. Immerhin erhält Kezia die Möglichkeit, das Wort zu ergreifen, Alexander zu widersprechen, ihn auf seine Kurzsichtigkeit hinzuweisen. Mit der Abreise ihrer Delegation geschieht allerdings das, was in so vielen mit Afrika befassten Filmen passiert. Schwarze Figuren werden zu Statist*innen, dekorativen Gestalten ohne eigene Persönlichkeit. Gerade weil Kraume einen Ethnologen in den Mittelpunkt stellt, hätte es viele Möglichkeiten gegeben, den spannenden Austausch der ersten halben Stunde am Leben zu halten, ohne Hoffmann gleich zum großen Humanisten zu stilisieren. 

Erinnerungen weckt Der vermessene Mensch ein wenig an Florian Gallenbergers – zugegebenermaßen reißerischeres – Thriller-Drama Colonia Dignidad – Es gibt kein Zurück, das die Verbrechen in der titelgebenden deutschen Sektensiedlung in der chilenischen Provinz rekonstruiert. Beide Arbeiten greifen finstere Kapitel der deutschen Geschichte auf und bieten einiges an Angriffsfläche. Gleichwohl wäre es schön, wenn es Kraumes Werk ähnlich erginge wie dem Streifen seines Kollegen, der dazu beigetragen hat, dass die lange unter den Tisch gekehrte Schreckensherrschaft in der Colonia Dignidad öffentlich wieder breiter diskutiert wird. Trotz aller Schwächen kann auch Der vermessene Mensch dazu animieren, über unsere Kolonialzeit zu sprechen, Schuld umfassend anzuerkennen – und weitere, dann noch stimmigere Leinwandprojekte auf den Weg zu bringen.

Der vermessene Mensch (2023)

Berlin, Ende des 19. Jahrhunderts. Alexander Hoffmann ist ein ehrgeiziger Ethnologie-Doktorand an der Friedrich-Wilhelms-Universität. Als im Zuge der „Deutschen Kolonial-Ausstellung” eine Delegation von Ovaherero und Nama aus „Deutsch-Südwestafrika“ nach Berlin reist, lernt Hoffmann die Dolmetscherin der Gruppe, Kezia Kambazembi, kennen. Hoffmann entwickelt ein intensives Interesse an den Ovaherero und Nama – und widerspricht nach den Begegnungen und Gesprächen mit ihnen der gängigen evolutionistischen Rassentheorie. Kurz darauf führt der Aufstand der Ovaherero und Nama in der Kolonie „Deutsch-Südwestafrika“ zum Krieg mit den Deutschen. Hoffmann reist im Schutz der kaiserlichen Armee durch das Land und sammelt für das Berliner Völkerkundemuseum zurückgelassene Artefakte und Kunstgegenstände. In Wahrheit sucht er jedoch weiter nach Beweisen für seine These – und nach Kezia. Vor Ort erlebt Hoffmann mit, wie deutsche Soldaten mit unmenschlicher Härte den Vernichtungsbefehl ausführen. Doch auch der Ethnologe überschreitet moralische Grenzen, als er einwilligt, seinem Berliner Professor, Schädel und Skelette von toten Herero zum Zwecke der Forschung zu schicken… (Quelle: Studiocanal)

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Meinungen

Anne Flock · 04.01.2023

Nochmals Anne Flock. Ich hätte da noch einen Vorschlag zur Verfilmung: „ Lasset die Kinder….“ 665 Seiten. Deutsche Nachkriegsgeschichte-Kinder in kath. Kinderheimen. Besonders hervorgehoben: Bernwardshof Himmelsthür bei Hildesheim. Buch nach Heimkindern-Aktenlage ( mein Vater und seine Brüder) . Für einen der Brüder endet die Geschichte ( Fritz 17 Jahre alt) tödlich. Für einen anderen Bruder Ernst ,in der Klapsmühle. Aber ich denke der Söder muss jetzt erstmal dem Papst Benedikt die letzte Ehre erweisen. Und deshalb fliegt er ja auch mit seinem Tross von 170 Mann und Männinen im Gefolge nach Rom. Also denke ich, das meine Geschichte ( die Geschichte meines Vaters, seiner Brüder und damit die Geschichte meiner ,bis zuletzt ,kämpfenden Großeltern, vielleicht in 100 Jahren aufgearbeitet wird. Damit wird dann auch den übrigen 850.000 Heimkindern aus der Zeit von 1946 bis 1975 Aufmerksamkeit geschenkt. adoptionsv @web. Anne Flock

Anne Flock · 04.01.2023

Ich bin gespannt auf den Film, war im Dezember 2019 und 2022 in Windhoek und Swakopmund. Habe 2019 den Roman „ Herero“ von Gerhard Seyfried . Jetzt lese ich das Buch noch einmal. Wenn man mit Dem Fahrrad von Windhoek nach Swakopmund durch das Khoma-Gebirge gefahren ist, dann kann man sich auf jeden Fall in die Landschaft einfühlen. Erst jetzt kommt ein Film über den Völkermord. Interessant. Als ich in Windhoek war, war auch Habeck dort mit seinem ( Tross) so schrieb es die AZ ( deutsche Zeitung für Namibia) in erster Linie will Habeck -seine grüne Energie- . Geinob der Präsident von Namibia hat aber erstmal ( laut AZ) klargestellt: Namibia sei „ keine „ Bananen Republik „ und er habe sich an Spielregeln zu halten, und es gäbe im Land eine unabhängige Gerichtsbarkeit!!! Das hat mich doch wohl sehr beeindruckt. !!!