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„Critical Zone“ verfolgt Drogendealer Amir durch Teheran. Zeitraffer, Rausch, Protest. Der Film ist eine Komödie im brennenden Haus.

Critical Zone (2023)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Leben aus dem Gleichgewicht

Dreimal habe ich diesen Film nun gesehen. Das erste Mal in Locarno, wo er den Goldenen Leoparden gewann, danach auf dem Filmfestival Mannheim-Heidelberg und nun beim Max Ophüls Preis in Saarbrücken. Damit ist der Film mehr gereist als Regisseur Ali Ahmadzadeh. Dieser wurde zunächst von einer iranischen Einheit festgehalten und konnte den Preis in Locarno nicht entgegennehmen. Jetzt ist er auf der Flucht, hat den Iran verlassen. Damit ist er nicht allein; viele, wenn nicht beinah alle Mitglieder von Cast und Crew mussten ähnliche Schritte gehen. „Critical Zone“ ist ein radikaler Film. Spricht man über ihn, spricht man immer über die Umstände, in denen er geschaffen wurde. Nicht einmal, weil man Film und kulturellen Kontext nicht trennen könnte, sondern weil der Film, vielmehr die Form von „Critical Zone“, von seinen Gegebenheiten determiniert ist. Regisseur Ahmadzadeh kehrt dies meisterhaft um – Restriktionen werden Stärken. Man könnte es mit der berühmten Anekdote über Barockmaler Rembrandt vergleichen: Dieser ließ seinen Lehrling stets den ersten Strich auf der Leinwand machen, um nicht vor einer weißen Fläche zu stehen. Ahmadzadeh arbeitet nicht nur mit den Umständen, sondern degradiert ein totalitäres Regime zu seiner symbolischen Kulisse.

Müde Augen. Der Schlaf lässt sich nur schwer herausreiben. Von Kunde zu Kunde. Die sind viel mehr als Junkies – Zuhörer, Heiler, Freunde. Critical Zone zeigt den Alltag von Drogendealer Amir im iranischen Teheran. Nur sporadisch kann dieser aus seinem recht einsamen Leben ausbrechen. Der Film ist dabei nicht episodisch – jedoch sicherlich begegnungsreich. Szenen beginnen mit dem Aufeinandertreffen und enden in Stille mit getrennten Wegen. Mal gibt es eskapistische Verfolgungsjagden, mal Abende allein zuhause.

Rechts abbiegen. Links abbiegen. 1982 legte Regisseur Godfrey Reggio mit Koyaanisqatsi (was übersetzt so viel wie „Leben aus dem Gleichgewicht“ bedeutet) den Grundstein der surrealen Verzerrung von städtischer Räumlichkeit. Zeit wird Nebensache. Vorgespulte Tage, Vogelperspektive, Zeitraffer. Analog dazu lässt Critical Zone Teheran an unseren Augen vorbeirauschen – stilistisch irgendwo zwischen Gaspar Noé und Erstlingswerk. Die Kamera wird am Lenkrad montiert. „Rechts abbiegen“, und das Bild dreht sich. Die Stimme des Navigationsassistenten diktiert nicht nur die Fahrtrichtung – sie wird Platzhalter des totalitären Systems, das auch nach Verlassen des Autos im Kopf verweilt und unsichtbar lenkt. Filmkritiker Hans-Christoph Blumenberg nannte Koyaanisqatsi 1983 in der Zeit „Monumentalistische Gebärde“ und „ein Klagelied auf den endzeitlichen Verfall“. Selbiges lässt sich nun über Critical Zone behaupten. Doch schwingt bei Koyaanisqatsi noch eine Menge Esoterik in den großen Observationen der Stadt mit. Critical Zone ersetzt jeden Hauch von Prätention durch nüchternen Humor – Ahmadzadeh hat einen Stoner-Film gemacht.

Diese tonale Meisterleistung wird in einer Szene besonders deutlich: Ein Altersheim, heimlich mit Drogen versorgt, diskutiert über Literatur aus ihrer Kindheit. „Wenn du zu mir kommst, bring Licht“ – iranische Poeten werden rezipiert. Dreherlaubnis hatte das Filmteam natürlich nicht, um Schauspieler:innnen handelt es sich – wie bei beinah allen Szenen – auch nicht. Wo hört Fiktion auf und fängt Dokumentarfilm an? Ahmadzadeh fängt mit seiner Kamera ein, was sonst hinter verschlossenen Türen geblieben wäre. Etwaige Genrefragen sind überflüssig. Der Film findet die unterschiedlichsten Bilder, um eine Bevormundung darzustellen. Die Stimme eines Navis, eine Mutter, die ihrem Sohn füttert, ein Dealer und seine Kunden. Ein Altersheim auf Drogen.

An einen iranischen Klassiker muss man besonders denken: Ten (2002) von Abbas Kiarostami, in welchem pseudo-dokumentarisch Frauen auf ihrem Weg durch den Tag begleitet werden. Die Kamera bleibt dabei stets im Auto, dieses wird Raum des Dagegenseins. Während Ten Frauen im Widerstand zeigte, so ist Critical Zone ein Porträt der Symptome des modernen Lebens im Iran. Eines Lebens aus dem Gleichgewicht. Das Auto kehrte in Ten als Hollywood-Wahrzeichen der Freiheit zurück – Critical Zone setzt mithilfe des diktatorischen Navigationsassistenten ein Fragezeichen dahinter. 

Die Stimmung ist aufgeheizt. 2023 solidarisierte sich die Berlinale und zeigte u.a. Sieben Winter in Teheran, Die Sirene, Where God Is Not – nur einige Beispiele, die eine neue iranische Protestwelle bilden. Critical Zone fällt zwar tonal aus der Reihe, aber warum nicht mit Augenzwinkern protestieren? In einer bitter-wütenden Komödie im brennenden Haus.

Critical Zone (2023)

Das Drama erzählt vom Alltag eines Drogendealers in Teheran.

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