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Animationsfilm über einen Jugendlichen in einer belagerten Stadt: Ein Blick auf die Bevölkerung von Abadan, bombardiert von Iraks Truppen zu Beginn des irakisch-iranischen Krieges in den 1980ern, nach der iranischen Revolution.

Die Sirene (2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Omids Arche

Iran ist eines der Länder, in dem die Bevölkerung weltweit am meisten unter Unterdrückung leidet, Unterdrückung durch die eigene Regierung. Ein Gottesstaat unter schärfstem islamistischem Recht, wie es sich Mohammed wohl nie hätte alpträumen können. Insbesondere Frauen werden unterdrückt – ein Haar zu viel kann bedeuten, sein Leben zu riskieren. Sepideh Farsi ist Mitte der 1980er aus dem Iran geflüchtet, lebt in Frankreich – und hat nun aus dem Exil nach einigen Dokumentar- und Spielfilmen ihren ersten Animationsfilm inszeniert. „Die Sirene“ (La Sirène) ist eine Geschichte von kurz nach der Revolution, die das ungeliebte, diktatorische Schah-Regime wegfegte – und das ungeliebte, diktatorische Khomeini-Regime schuf.

Der Film spielt 1980 in Abadan im Süden, wo Omid aufwächst, 14 Jahre alt. Beim Bolzen muss er einen Elfmeter halten – und lässt den Ball durch ins Tor, weil gleichzeitig Bomben fallen auf die Raffinerie. Der Krieg ist da: Die Irakis belagern die Stadt, beschießen sie, bombardieren sie. Die Bewohner sind dem Tod ausgesetzt. Aus der Sicht des Jugendlichen erleben wir diesen Krieg: Mutter und die kleineren Geschwister können fliehen, Omid bleibt mit dem Großvater in Abadan – der große Bruder hat sich freiwillig an die Front gemeldet.

Der Iran als brutaler Unrechtsstaat steht völlig berechtigterweise seit einigen Jahren im Mittelpunkt des filmischen Interesses. Kino aus dem Iran selbst wie auch von Exiliranern gibt es viele, sie alle beschreiben die Situation in einem Land, in dem es keine Freiheit gibt. Das Besondere an Die Sirene: Der Film bleibt völlig bei den Iranern in einer Situation, in der die Alternative zum Religionsstaat das Überrennen durch den Feind, durch Saddam Husseins Irak, ist. Und so wird die iranische Situation selbst, kurz nach der Revolution, nicht – oder nur ganz nebensächlich – thematisiert. Es geht um den Krieg, den hier keiner will und den keiner wirklich versteht. Es geht um Menschen, die eine Revolution hinter sich haben, die sich neuen Regeln beugen müssen (Kopftuch für Frauen!), die sich aber vor allem einem gesichtslosen Feind von außen gegenübersehen.

Einer der Anführer der iranischen Truppen ist äußerst nett. Er hat Omids Bruder rekrutiert – und sorgt dafür, dass Omid selbst, der 14-Jährige, sich im Überschwang nicht ebenfalls an die Front wirft. Er hat es Omids Bruder versprochen. Omid streift durch die Stadt, kümmert sich um Shir Khan, seinen Möchtegernkampfhahn, bekommt das Motorrad des verstorbenen Vaters. Er bekommt zufällig einen Job, Essensauslieferungen. Er trifft alle möglichen Leute, die oben im Ausguck, die den Feind beobachten und genau wie die Iraner eine Roboterserie im Fernsehen schauen, trifft einen katzenliebenden Ex-Ingenieur, trifft armenisch-orthodoxe Christen in ihrem Kloster. Trifft Pari, gleichaltrig, es funkt bei ihm und bei ihr; sie ist die Tochter einer berühmten Sängerin – berühmt vor der Revolution.

Die Geschichte mäandert, hat lange kein Ziel – das ist Absicht, der Krieg hat auch weder Zweck noch absehbares Ende. Erst als Omid Offiziere belauscht, die von einer möglichen endgültigen und unabwehrbaren Attacke der irakischen Truppen sprechen, fasst er einen Beschluss. Und führt diesen Beschluss beharrlich und konsequent aus.

Am Hafen liegt ein Boot, noch kaum beschädigt. Der Ingenieur kann den Motor reparieren. Die Klosterbrüder können (verbotenen) Alkohol besorgen, das verlangt der Ingenieur als Bezahlung. Ein Fotograf kennt einen Kapitän, der geht mit, wenn die Sängerin dabei ist. Omid bewältigt die Aufgaben, die sich wie in einem Computerspiel aneinanderreihen. Eigentlich wollen alle bleiben, trotz Zerstörung und Tod – sie hängen an ihren Erinnerungen an diese Heimat. Schließlich aber kann Omid seine Arche füllen mit denen, die ihm am Herzen liegen.

Immer wieder taucht der Film ein in Omids Fantasien, die kurz aufblitzen, die ein anderes Leben als Alternative zeigen – als Superroboter beispielsweise. Eindrücklich aber, wie Omid geistig hinüberschwappt in die Zeit vor der 1979er-Revolution, als Männer und Frauen zum Vergnügen auf der Straße unterwegs waren, als es Kino gab und Freizeit und Freiheit. Was aus der Revolution erwuchs, können wir heute in den Tagesnachrichten sehen. Damals war die Bedrohung durch die Iraker größer als die Furcht vor den Ultrareligiösen. Wir fühlen mit den Iranern, die nichts tun können gegen die zunehmende Unterdrückung – wir sind ganz bei ihnen und müssen uns beim Sehen immer wieder vergegenwärtigen, dass die, die hier mit ihren Gewehren gegen den äußeren Feind kämpfen, später mit ihren Gewehren gegen das eigene Volk vorgehen werden.

Es ist eine Geschichte von Krieg und Hoffnung. Es ist keine Geschichte gegen den Iran, sondern ein Loblied auf die Iraner, die ihre Stadt nicht aufgeben wollen, die ihr Leben verteidigen. Jeder hat einen anderen Standpunkt, aber jeder hilft dem anderen. Damit ist der Animationsfilm – der sicherlich für ein erwachsenes Publikum gedacht ist, mit den Toten und Zerfetzten an der Front – im Grunde ein Abenteuermärchen, gezeichnet in der Tradition der Ligne Claire von Hergé, mit klaren Konturen und flächiger Farbe, dennoch lebendig und dynamisch.

Für Erwachsene könnte der Film vielleicht etwas zu kindlich sein; für Kinder zu brutal. Die große Solidaraktion zur Wiederherstellung des Schiffes wird zu schnell erzählt; und sicherlich wäre auf Omids Arche noch Platz gewesen für weitere Menschen, die aber außerhalb des Blickfelds des Films liegen. So ist nicht alles gelungen – aber als fokussierter Blick hinein in das Leid einer Bevölkerung inmitten eines Krieges trifft Sepideh Farsi ins Mark. Gerade als Animationsfilm, der zeigen kann, was im Spielfilm unmöglich ist – eine Spannung zwischen der überwundenen Vergangenheit, einer ungewissen Zukunft und einer tödlichen Gegenwart.

Die Sirene (2023)

Iran 1980. Nach einem irakischen Raketenangriff versinkt die Ölmetropole Abadan im Chaos. Der 14-jährige Omid ist als Essenslieferant unterwegs. Er sucht nach seinem verschwundenen Bruder und nach einem Fluchtweg aus der eingekesselten Stadt.

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Meinungen

Heiner · 17.10.2023

"Ein Gottesstaat unter schärfstem islamistischem Recht, wie es sich Mohammed wohl nie hätte alpträumen können. Insbesondere Frauen werden grundlos umgebracht – ein Haar zu viel, und Frau ist tot." Was für ein Schwachsinn! War der Autor dieser Zeilen jemals im Iran oder einem anderen autokratischen Regime? Ja, die Lage im Iran ist nicht mit der in einer Demokratie zu vergleichen, aber solche absurden Umstände, wie sich der Autor das offenbar vorstellt, herrschen dort auch nicht...