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Der Gangster Zenong Zhou flieht mit der undurchsichtigen Prostituierten Aiai Liu vor der Polizei in das Chaos einer ländlichen Enklave. Der neue Film von Diao YInan, der 2014 den Goldenen Bären gewann, ist ein Mischung aus Film noir und Thriller, die sich schnell von jeder Narration löst.

Der See der wilden Gänse (2019)

Eine Filmkritik von Lucas Barwenczik

Reißschwenk durch die Nacht

Ein Polizist lässt eine Landkarte an die nackte Wand hängen. Auf den ersten Blick würde man wohl gar nicht erkennen, dass hier eine Stadt gezeigt wird. Man könnte sie auch für ein abstraktes Gemälde halten. Vielleicht eines von M.C. Escher. Allerlei Linien, Kringel und Kreise verteilen sich in dem großen Rechteck. Es herrscht Unordnung, und irgendwo in diesem Chaos soll sich ein Mensch verstecken. Der Mensch ist der Gangster Zenong Zhou, den nicht nur die Polizei zur Strecke bringen will, sondern auch die Mitglieder einer verfeindeten Gang. Und das Chaos, das ist Diao Yinans Noir-Thriller „The Wild Goose Lake“.

Dieser Film ist vor allem ein Ort: Seine Geographie und Architektur, seine Farben und Formen. Und er ist wie dieser Ort: Verworren, unübersichtlich, eine Sammlung kleiner Seitenstraßen, von denen sich so manche als Sackgasse erweisen. Ein Ort ohne Gesetze, heißt es einmal. So, wie die Karte dem Gebiet nicht gerecht wird und keine Übersicht verschafft, kann die Handlung die Figuren und Ereignisse nur unzureichend ordnen. Der Plot wird fast gänzlich durch die simple Dramaturgie von jagen und gejagt werden ersetzt. 

Es gibt keine narrative Vorwärtsbewegung, nur eine physische. Der Film ist ein Tanz auf einer Eisfläche voll von formschönen Kristallen, bei dem die kalten Wassermassen darunter immer nur angedeutet werden. Zumindest einen Anfang und ein Ende gibt es. Der Film beginnt mit einem Treffen zwischen Zhou (Ge Hu) und der unergründlichen Prostituierten Aiai Liu (Lun-Mei Kwei). Der Regen fällt, als wäre er ein Naturgesetz, wie so oft in diesem Film. Paranoid tanzt die Kamera um ihre Treffen – es droht eine unbekannte Gefahr. Liu hatte den Auftrag, Zhous seit fünf Jahren entfremdete Familie zu finden. Seine Frau Shujun Yang (Regina Wan) hat ihren Mann nicht vergessen, Liu geht sie jedoch schnell wieder verloren. Rückblicke erzählen, wie die beiden Hauptfiguren in ihre missliche Lage gelangt sind, warum sie jetzt verfolgt werden. Ein Polizist ist tot, mehrere Gangmitglieder auch. Sie fliehen gemeinsam vor der Staatsgewalt, angeführt vom Kapitän der Verbrechensabteilung (Fan Liao). Die Not schafft eine lose, unsichere Allianz. Wenn das Licht richtig steht, kann man sie fast für eine Liebesgeschichte halten.

Der Film springt mehrfach durch Zeit und Raum, in der Regel ohne Erklärung. Wenn Texteinblendungen einen Ort benennen, dann wirkt das fast spöttisch. Als ob es wirklich von Bedeutung wäre, dass man in diesem oder jenem Hotel ist. Es gibt eine nette Szene zwischen den beiden Hauptfiguren, ein Hitchcock-Zitat: Zhou will Lui einen Plan erklären, doch die Akustik wird vollständig von einem vorbeirauschenden Zug geschluckt. Wie in der berühmten Szene auf dem Rollfeld in Der unsichtbare Dritte ist es eigentlich unerheblich, wie die Details ihres Gesprächs verlaufen. Figuren treten auf und wieder ab, die meisten sind nur als moralisches oder physisches Hindernis relevant. In seiner Eile verwischt die Welt um den Verbrecher. Der Film ist ein einziger langer Reißschwenk, bei dem nur die zwei Extrempunkte bedeutsam sind und alles dazwischen sich verzerrt. Wer die chinesische Filmzensur kennt, der weiß, wie es einem Verbrecher letztendlich zu ergehen hat. So lautet die Frage dann eher: „wie?“ statt „was?“

Doch was bindet an den Film, wenn die Handlung nicht durch die Welt zieht und die Figuren Chiffren bleiben? The Wild Goose Lake ist vor allem eine Sammlung visueller Reize und kunstvoll kuratierter Einzelmomente. Regen, Neonlicht, kahle Wände aus grauem Beton, dazwischen Menschen, all das wird immer neu arrangiert. Ein Hotelzimmer, in dem sich die Gangster treffen, wird in stechendes Pink getaucht. Während einer Verfolgungsjagd auf Motorrollern lassen Wind und Regen die Bilder verwischen, das Licht bricht sich in den Wänden aus Wasser zu aufblitzenden Prismen. Tänzer mit leuchtenden Sohlen bewegen sich zu den Klängen von Boney Ms „Raspuntin“ oder dem deutschen Schlager „Dschinghis Khan“. Diese Tänze bei Yinan erinnern an ähnlich Angelegte bei Jia Zhangke, wo ebenfalls die kollektive Choreographie zu alten westlichen Songs inszeniert wird. Später rettet der Protagonist sich in ein Kuriositätenkabinett, er löst eine seltsame Show aus: Eine Frau in einer Art Fernsehapparat singt und dreht sich im Kreis, nur ihr Kopf ist zu sehen und wirkt, als würde er ohne Körper leben. Im Hintergrund stehen Jahrmarkt-Zerrspiegel. Dieser Ort ist wohl auch der Film im Kleinen, konzentriert. Die Kamera verweilt nicht lange. Manche Bilder lassen an Nicolas Winding Refn und seine in Neon erstarrten Räume denken. Doch Diao Yinan geht es nie um eine kalkulierte Leere, eigentlich ist dieser Film voll von Menschen und Ereignissen. Sie werden lediglich in der Hast verwischt.  

Einmal stürmt Zenong Zhou durchs Bild und wird vom Gegenlicht zu einem zitternden Schemen. Als seine Verfolger denselben Pfad einschlagen, verschmelzen alle ihrer Schattenwürfe zu einer großen, zuckenden Entität. Jäger und Gejagter, in der Jagd vereint. Es mag ein Klischee des Genres sein, aber in einem chinesischen Film kann man es durchaus als subversiv verstehen, wenn Gangster und Polizisten in der Bildsprache gleichgesetzt werden. Es gibt zwei große Versammlungen im Film: Verbrecher rufen eine Art Motorrad-Diebstahl-Wettbewerb aus, mit dem über die Verteilung von Gebieten entschieden wird. Zuvor gibt es einige Anweisungen, was es zu stehlen lohnt und was nicht. Später versammelt ein hochrangiger Kriminalpolizist Beamte von verschiedenen Stationen, um Zenong Zhou zu jagen. Der Raum ist ähnlich schäbig. Wenn es einen Unterschied gibt, dann wohl, dass die Biker-Gang besser organisiert ist. Als bei der Polizeikonferenz die Frage im Raum steht, wer alles für diesen Fall zum Schützen ausgebildet werden müsse, gehen viele Hände hoch. 

Wenn es zu einem Kampf kommt, verfällt der Film in einen seltsamen Rhythmus. Waffen werden zur Seite gestoßen, wuchtige Schläge platziert, immer zum Takt einer unsichtbaren Musik, stets ein ganz klein wenig langsamer, als man erwarten würde. Die Körper bewegen sich ein wenig ungelenk, man merkt ihnen die Trägheit an. Niemand hier ist ein Kung-Fu-Krieger oder Jason Bourne. Die Gewalt hat etwas Abstraktes, wie in Diao Yinans Berlinale-Erfolg Feuerwerk am helllichten Tag wird ein Spektrum abgebildet. Manchmal wird unerkannt im Off gestorben, manchmal auf geradezu absurde Weise, übersteigert wie in einem Film von Takashi Miike. Das Blut spritzt, aber so, als wäre es Teil einer großen Performance. 

Es gibt einen Mord in einem Zoo, ängstlich von den Tieren beäugt. Flamingos fliehen durch den Nebel. Jeder Schuss erhellt mit seinem Mündungsfeuer ein anderes Tier, als wären selbst die Tiger überrascht von den Bluttaten der Menschen. Ein wenig erinnert es auch an Großwildjagd, wie der Gangster durch den Stadtdschungel gehetzt wird. Keiner behält dabei seine Menschlichkeit. Diao Yinan betont in seinen Bildern die vielen Unschuldigen, die ins Kreuzfeuer geraten. Wo Polizei-Schwadronen und Gangs schießen, leiden vor allem Unbeteiligte. Die Umgebung um den See wird als Rückzugsort der „Faulen und Arbeitslosen“ beschrieben, als ländliche Enklave, ein wenig abseits der vollständigen Regierungskontrolle. Aus der Sicht der Mächtigen sind die Anwohner kaum mehr Menschen, nur Raum zwischen den Punkten, Kreisen und Linien ihrer Landkarte. 

Im englischen Sprachraum meint „wild goose chase“ die Suche nach etwas Unerreichbarem. Manchmal glaubt man bei diesem Erlebnis zu einer größeren Wahrheit vorzudringen, nur um doch wieder auf Neonlicht und Nebel zu beißen. Es will sich nicht fügen, will kein Ganzes ergeben, sondern nur tausend Splitter. Und so steigen nach und nach in der Erinnerung die besonders Schönen nach oben, an die Oberfläche, wo der Zuschauer sitzt, beobachtet und sich seine eigene Erfahrung sammelt aus allem, was diesem tiefen schwarzen See entspringt.

Der See der wilden Gänse (2019)

„The Wild Goose Lake“ dreht sich um den Anführer eine gefährlichen Biker Gang, der auf eine Frau trifft, die bereit ist, alles für ihrer Freiheit zu opfern. Beide haben sich in eine Sackgasse hineinmanövriert und sind bereit, alles auf eine Karte zu setzen. Und sie entscheidet sich ihr Schicksal an einem Bahnhof im Süden Chinas.

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