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Das Brüsseler Viertel Molenbeek gilt als eine Hochburg der Islamisten. Mehrere Terroristen, die 2015 und danach in Paris und Brüssel Anschläge verübten oder versuchten, hatten dort gewohnt. Hier leben zwei Jungen, die sich im Spiel ihren Reim auf kulturelle Unterschiede, Gott und die Welt machen.

Die Götter von Molenbeek (2019)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Kinderspiele im Schatten des Terrors

Für ein Kind ist es eine tägliche Herausforderung, sich auf die Welt einen Reim zu machen. Es hört von Schwarzen Löchern und von griechischen Göttern, es schnappt Bemerkungen von Erwachsenen auf, hat Freunde, die etwas anderes wissen oder glauben. So geht es auch dem 6-jährigen Aatos, der mit seiner finnischen Mutter und seinem chilenischen Vater im Brüsseler Viertel Molenbeek wohnt. Aatos‘ Hausnachbar und bester Freund Amine wird von seinen muslimischen Eltern schon früh an die Religion herangeführt. Aatos fragt sich, ob es einen oder mehrere Götter gibt und welcher der oberste von allen sein könnte.

Ursprünglich wollte die finnische Regisseurin Reetta Huhtanen nur einen dokumentarischen Kurzfilm über ihren Neffen Aatos und seinen Freund drehen. Sie hatte von ihrer Schwester gehört, dass sich Aatos viel mit Fragen über Gott beschäftigt. Dann ereignen sich während der Dreharbeiten im März 2016 in Brüssel islamistische Bombenanschläge, die viele Menschen in den Tod reißen. Die Kinder begegnen auf ihren täglichen Streifzügen Soldaten und Demonstranten. Die Welt der Erwachsenen bekommt einen bedrohlichen Zug. Menschen demonstrieren auf den Straßen, um sich von Dschihadisten zu distanzieren. Viele der Einwohner, die überwiegend Muslime mit nordafrikanischen Wurzeln sind, leiden bereits seit dem Vorjahr unter dem Stigma Molenbeeks, Wohnort mehrerer Attentäter, Drahtzieher und Helfershelfer von islamistischen Anschlägen gewesen zu sein.

Im Mehrfamilienhaus, in dem Aatos und Amine wohnen, leben Menschen verschiedener Nationen und Kulturkreise. Sie sprechen Französisch, Arabisch, Niederländisch, Russisch, Finnisch. Aatos unterhält sich mit Amine auf Französisch. Am Anfang des Films ist die Welt der Kinder noch heil. Sie besuchen sich gegenseitig, spielen im Hof, sogar häufig auf den belebten Straßen. Mit seiner Schulfreundin Flo geht Aatos auch gerne in einen nahen Park oder Wald. Hier gibt es Frösche, die Flo zum Spaß in den Mund nimmt. Flo ist ein richtiger Wildfang und weckt von ferne Erinnerungen an die kleine Heldin aus The Florida Project.

Aatos fragt seine beiden Freunde, ob es Götter und ein Jenseits gibt. Flo verneint kategorisch. Amine glaubt an Allah und weiß auch, dass Jesus keineswegs der Sohn Gottes gewesen sei. Aatos hat da anderes gehört. In seiner Schulklasse werden zudem gerade die griechischen Götter durchgenommen, und er kauft sich auf dem Straßenbazar einen leuchtend blauen Umhang, um Poseidon zu spielen. Ein anderes Mal ist er Hermes oder der nordische Gott Thor. Die Kamera fängt seine fantasievollen, tänzerischen Spiele ein, die er zum Teil auf der Straße vollführt. Das wirkt zwar etwas gestellt, aber seinem Spaß nach zu urteilen hat er wohl seine eigenen Ideen mit ein wenig Hilfestellung oder Ermunterung verwirklichen dürfen.

Im Poseidon-Gewand hört man Aatos rufen, „Ich bin Marokkaner!“ Denn vor allem interessiert sich Aatos für den Glauben Amines. Der Freund mit marokkanischen Wurzeln betet zuhause mit seinem Vater, er sagt auswendig gelernte religiöse Texte auf und besucht die Moschee, begleitet vom staunenden Aatos. Im gemeinsamen Spiel und erstaunlich tiefgründigen Gesprächen verhandeln die Kinder Ansichten und Überzeugungen, kombinieren, verwerfen oder verändern sie, rätseln über Inkompatibles. Die Kamera filmt sie auf Augenhöhe, so wie der ganze Film ihrer Perspektive folgt. Werden die Jungen im Beisein ihrer Eltern oder anderer Erwachsener gefilmt, bleiben diese oft unsichtbar oder treten nur halb, ohne Gesicht, ins Bild. Was sie sagen, ist jedoch zu hören. Im Hintergrund bekommt man das Straßenleben zu sehen, Demos, eine Feier zum Ende des Ramadan.

Auf die Bombenanschläge im März 2016 reagiert Aatos sichtlich verstört. Soldaten stehen auf den Straßen, sein Rucksack wird kontrolliert. Sein Abenteuerrevier hat sich verändert, wird ihm irgendwie streitig gemacht. Warum sind so viele Menschen gestorben? Aatos will auf einmal, dass ihm die Mutter abends andere Geschichten vorliest, solche, in denen es um die Bomben geht. Auch die Freundschaft mit Amine wird von einer Verunsicherung erfasst, in der sich die Realität im Viertel spiegelt. Doch die Kinder finden ihren eigenen Weg, ihr Zusammenhalt scheint noch zu wachsen. Das zeigt sich besonders in einem Epilog, der ein Jahr später gedreht wird.

Der Film, der die Erlebniswelt der Kinder so genau beobachtet, entfaltet einen unwiderstehlichen Zauber. Aatos und seine Freunde wirken mit ihrer regen Auffassungsgabe, ihrer Fantasie und ihrem Wissensdurst so klug, dass ihr sehr junges Alter beinahe schon in den Hintergrund gerät. Außerdem zeigt sich am Beispiel von Aatos und Amine das positive Potenzial dieses Viertels, denn sie führen vor, wie bunt und bereichernd eine Nachbarschaft verschiedener Kulturen sein kann.

Die Götter von Molenbeek (2019)

Die Freunde Amine und Aatos leben im gleichen Haus. In ihrem Universum geht es um Spinnen, die Suche nach Gott und eines Tages auch um Terror, der das Leben in ihrem Stadtteil Molenbeek verändert. Eine zeitgemäße Kindheitsstudie fernab aller Klischees.

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