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Eine Tagesklinik für Psychiatriepatienten in Paris als Ort, in dem Therapie aus Menschlichkeit, Respekt und Miteinander erwächst.

Auf der Adamant (2023)

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Das Narrenschiff


Ein Gebäude auf dem Wasser; besser: ein Schiff, fest auf dem Boden – das Adamant ist eine Tagesklinik auf der Seine, Teil eines Netzwerks psychiatrischer Kliniken in Paris, wo Patienten sich auf Gespräche und Workshops einlassen können, wo sie sein können. Nicolas Philiberts Dokumentarfilm „Auf der Adamant“ erklärt nichts über diese Hintergründe, er zeigt einfach, was auf diesem Schiff der psychisch Verwundeten und Kranken los ist.

Es muss eine Menge Arbeit gekostet haben, das Vertrauen aufzubauen, das dieser Film porträtiert. Ein Vertrauen von Patienten und Pflegern in den Regisseur und seine Kamera, ein Vertrauen aber auch des Regisseurs in sein Subjekt, bei dem ja nie klar sein kann, ob tatsächlich etwas herauskommt. Das aber tut es.

An der Oberfläche: Einblicke in eine humane, humanistische Form der Psychiatrie, in der den Patientinnen und Patienten mit Achtung und Aufmerksamkeit begegnet wird, in dem möglicherweise nahezu 1:1-Betreuung möglich ist, in der Workshops und Gespräche nie mit therapeutischer Hauptfunktion angegangen werden, sondern in denen diese Therapiewirkung ganz selbstverständlich aus der Beschäftigung der Patienten mit ihren Aufgaben und der Pfleger mit ihren Patienten erwächst.

Philibert ist dabei; nicht unsichtbar für die Kranken, sondern ein Teil ihres Alltags. Dies zu erreichen, muss gerade in Coronazeit schwierig gewesen sein. So beklagt eine Frau, dass sie keinen Besuch von Freundinnen mehr erhalten dürfe. Aber Philibert ist dabei, bei Morgenbesprechungen, die sich gerne auch um das EM-Finale drehen, bei Musik- oder Nähworkshops, bei Gesprächen auf dem Schiff zwischen: ja, vielleicht zwischen Kranken und Ärzten, vielleicht auch unter Kranken. Das ist auch etwas Besonderes und von einer psychiatrischen Einrichtung kaum zu erwarten: Wer pflegt, wer therapiert, wer Hilfe braucht und krank ist, das ist nicht auf den ersten Blick ersichtlich, weil offenbar viel Mühe darauf verwendet wird, ein wirkliches Miteinander zu schaffen. Was bedeutet, dass die Kranken ihre Aufgaben haben, ihre Verantwortungen: Einen sehen wir immer wieder im Hintergrund Blumen gießen.

Es sind unglaublich tolle Szenen, die Philibert einfängt in seiner behutsamen Art des Filmens. Beim Malworkshop klagt eine, sie sei gar nicht gut gelaunt, habe gleich morgens ein Valium nehmen müssen. Was sie dann zeichnet, ist unglaublich, nämlich mit einem verschmitzten Humor, der selten ist: eine bunte Gottesanbeterin mit Fliege um den Hals, nämlich für Gäste – aber Vorsicht: Sei besser nie Gast bei ihr! Ein anderer ist eine Marke für sich. Bei ihm ist schnell klar, was mit ihm los ist, er erzählt von den Van Gogh-Brüdern, und kommt mit einer Theorie daher: Wim Wenders nämlich hat in „Paris, Texas“, der Geschichte der Brüder im Film, die Van Gogh-Vorbilder genommen und auf sein Leben angewendet, auf das dieses Patienten. Im Übrigen ist der Geist von Jim Morrison (und dessen Freundin Pamela) in ihn gefahren.

Er ist Hippie-obsessiv und schreibt darüber Bücher. Es ist völlig verquer, aber in sich logisch, und sehr faszinierend! Er improvisiert mit Morrisons Inspiration ein Lied für die Kamera, „Reveur, reveur, never say never, never nevermore, open the door“ – und diese Szene legt offen, was auf diesem Schiff der Narren möglich ist. Nämlich aus den gequälten, derangierten Seelen, aus den chaotischen Gedanken Poesie und Kunst herauszukitzeln, weil Kunst vielleicht ja auch nur das Kanalisieren von Chaos ist.

Offen sprechen die Patientinnen und Patienten darüber, was sie quält. Einer weiß, ohne seine Medikamente wäre er ein radikaler Gewaltstifter; eine andere ist dankbar, die Stimmen nicht mehr zu hören, weil sie jetzt ihren Sohn besuchen darf, der elf Jahre zuvor in eine Pflegefamilie gegeben wurde. Einer sagt es deutlich: Die Polizei wird ihn einsperren, wenn er jemanden umbringt, 30 Jahre, da ist er lieber hier, macht Therapie, nimmt Tabletten.

Philibert zeigt das Adamant als Utopie im wörtlichen Sinn, als einen Nicht-Ort, der außerhalb des Systems, des Restes von Paris, von Frankreich existiert, ein Nicht-Ort jenseits und unberührt von Restriktionen im Gesundheitssystem. Indem er diesen Ort zeigt, an dem Therapie und Menschlichkeit funktionieren, gemeinsam, zeigt er, was möglich wäre, was möglich sein sollte. „Wie lange noch?“ — diese Frage steht am Ende des Films eingeblendet. Nie explizit, aber durch das Zeigen allein mahnt Philibert, was verloren geht, wenn diese Seelen, die wir im Film kennen- und auch lieben lernen, vollends verloren gehen würden. Und das kann viel zu schnell passieren.

 

 

 

Auf der Adamant (2023)

Der Dokumentarfilm porträtiert das Pariser Centre de jour L’Adamant, ein besonderes Tageszentrum für die Behandlung von Erwachsenen mit psychischen Störungen.

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Meinungen

Irene F. · 03.10.2023

Es ist unangemessen, zu Beginn der Rezension von einem Narrenschiff zu sprechen.