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Eine junge Frau besucht ihre texanische Familie zu Thanksgiving und merkt schnell, dass hier irgendetwas nicht stimmt. Ein Film, so speziell wie großartig.

Family Portrait (2023)

Eine Filmkritik von Ipke F. Cornils

MIT FREUD ZUR FAMILIENFEIER

Mit „Familiy Portrait“ legt die Choreografin, Video- und Performance-Künstlerin Lucy Kerr ihr Langfilm-Debüt vor. Gleichermaßen vom Paranoia-Kino eines John Carpenters wie vom Philosophen und Essayisten Roland Barthes beeinflusst, siedelt sich Kerrs Debüt irgendwo zwischen elevated horror und Experimentalfilm an und hinterlässt dabei ein ganz besonderes Gefühl von Unbehagen. 

Familienfeiern sind schon sehr seltsame Unterfangen. Menschen, die im Leben des jeweils anderen manchmal nur eine Phantompräsenz einnehmen, kommen zusammen, weil sie so etwas Vages wie Verwandtschaft miteinander verbindet. So oder so ähnlich würde wahrscheinlich auch die Hauptprotagonistin von Kerrs Film Katy (Deragh Campbell) die Feiern mit ihren Angehörigen beschreiben.

Denn die junge Frau hat nur wenig mit ihrer texanischen Familie und deren Way of Life zu tun. Ihr Plan für die diesjährige Thanksgiving-Feier steht daher fest: Nachdem das diesjährige Familienfoto geschossen wurde, will sie abhauen. Doch irgendwie stimmt hier etwas von Anfang an nicht. Der süße Hund von Katys Nichte ist schon den ganzen Tag verschwunden, Nachrichten über eine mysteriöse, todbringende Lungen-Krankheit machen die Runde und plötzlich ist auch noch Katys Mutter Barbara (Silvana Jakich) wie vom Erdboden verschluckt. Nur scheint das wiederum niemanden außer Katy so richtig zu interessieren.

„Familienfotos sind laut Roland Barthes ein verzweifeltes Mittel, um die Zeit einzufrieren und die Familie zu verewigen. Was die Familie jedoch noch nicht weiß, ist, dass sie, während sie lächelt und für das Bild posiert, bereits gestorben ist“ – wird Kerr auf der Internetseite ihres Filmverleihs zitiert. So mehrdeutig wie das Werk Barthes fällt auch Kerrs Rezeption von diesem aus. Dennoch offenbart ihr Zitat das Kernthema ihres Films: den Tod. Besonders deutlich wird dies in der Spiegelung der Anfangssequenz, die der Film gen Ende vollführt.

Sahen wir am Anfang eine wild herumtollende Familie, die sich von Mutter Barbara vor dem finalen Familienfoto nur schwer bändigen lässt, sehen wir später, wie an ähnlicher Stelle in ähnlicher Situation aus der tollenden Familie eine schweigsame Trauergemeinde geworden ist. Wobei deutlich in diesem Fall eher relativ zu verstehen ist. Denn wenig verwunderlich schert sich die eher aus der Avantgarde-Kunst stammende Kerr wenig um die Konventionen des narrativen Spielfilms. Eine stringente und chronologisch erzählte Handlung oder Figurenentwicklung sucht man hier vergebens.

Vielmehr bilden bei Family Portrait verschiedene Einzel-Sequenzen ein großes Film-Ganzes. Um die Analogie zur Fotografie zu bemühen: Der Film fühlt sich beim Schauen wie das Blättern durch ein Fotoalbum an, welches sich ja auch, in einem zumeist eher sporadisch übergeordneten Sinn, aus verschiedenen Einzel-Fotos und Bildstrecken zusammensetzt.

Die Seherfahrung, die von diesem enigmatischen Film, ausgeht, lässt sich vor allem als im freudianischen Sinne unheimlich bezeichnen. Denn sowie sich laut dem Begründer der Psychoanalyse im Unheimlichen das Vertraute (heim) und das Fremde (heimlich) die Klinke in die Hand geben, so löst auch Kerrs Film beim Schauen ein schwer zu beschreibendes Gefühl von Unbehagen aus. Und dies, obwohl wir nur ganz alltägliche Familien-Situationen zu sehen bekommen.

Woran das nun genau liegt, lässt sich derweil nur schwer beantworten. Einen Anteil daran hat sicherlich die tolle Kamera-Arbeit von Lidia Nikonova, die manchmal ganz nah an den Akteur:innen dran ist, diesen entfesselt hinterher rast oder einfach wunderschöne Lichtstimmungen einfängt, uns dabei aber einen Gesamtüberblick verwehrt. Ebenso großartig ist das Sound-Design von Nikolay Antonov und Andrew Siedenburg. An diesem ewigen Surren und Brummen, das immer wieder die Tonspur überlagert, an- und wieder abschwillt, könnte man das Unbehagen festmachen. Oder an Kerrs Entscheidung, immer wieder das Off des Films zu bespielen, z. B. wenn Gespräche und Geräusche, die sich abseits des sichtbaren Filmbildes abspielen, mehr und mehr in die Wahrnehmung des Publikums drängen.

Dann wäre da noch die Sorge, dass die ewigen Ausführungen von Vater Charles (Robert Salas) irgendwann doch ins Rechtspolitische abdriften. Auch hier hilft ein Blick auf das Oeuvre Freuds. Dieser sah den Kern des Unheimlichen nämlich im Verdrängten, womit sich auch der Kreis zu Barthes’ Thesen zur Fotografie schließt. Denn das ultimativ Verdrängte ist natürlich der Tod. Aber auch wenn es sich nie ganz klar benennen lässt, wie Kerr es auf beeindruckende Weise schafft, das seltsame Gefühl des Verdrängten zu erschaffen, genügt es doch, sich in dieses Gefühl fallen lassen zu können. Family Portrait mag kein Film für jede:n sein, aber wie für eine Psychoanalyse gilt auch für diesen: Wer sich darauf einlassen kann, der wird belohnt werden. 

Gesehen beim Filmfestival Mannheim-Heidelberg. 

 

 

Family Portrait (2023)

Ein ganz normaler, aber ziemlich hektischer Morgen im Leben einer Familie zu Beginn der Corona-Pandemie: Eigentlich ist die Familie zusammengekommen, um ein Gruppenbild aufzunehmen, doch dann verschwindet die Mutter und eine Tochter macht sich auf die Suche nach ihr, während alle anderen nicht im Traum daran denken, sich vor der Kamera zu versammeln. 

 

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