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In Berlin sind die Menschen bunt, doch die Stadt ist oft grau. Jochen Hick beobachtet im dritten Teil seiner Berlin-Trilogie die kulturelle Flucht in die deutsche Hauptstadt. 

Queer Exile Berlin (2023)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Der Traum des Safe-Spaces

Regisseur Jochen Hick zeigt in diesem Dokumentarfilm den projizierten Traum von Berlin als absoluter Safe-Space. Während die Menschen bunt sind, ist die Stadt oft grau; und manche Träume zerschellen an der betonfarbenen Realität der Hauptstadt. 

Dieser Film ist das letzte Stück seiner Berlin-Trilogie, bestehend aus Out In Ost-Berlin (2013) und Mein wunderbares West-Berlin (2017). Der Regisseur beweist vor allem im jetzigen Film Queer Exile Berlin sein besonderes Gespür, die Stadt in bewegten Bildern einzufangen. Ebenso ist ihm das Thema Queerness nicht fremd. Durch die hohe Expertise klingen die vereinzelten Zwischenfragen und Einwürfe aus dem Off nie fehl am Platz, sondern bohren vielmehr bei relevanten Themen noch einmal unablässig, aber respektvoll nach.

Seine Filme sind jedoch keine Porträts von Berlin im klassischen Sinne. Frederick Wiseman – der wohl respektierteste lebende Dokumentarfilmer – versucht in seinen Filmen, sowohl die Kamera als auch seine eigene Präsenz am gefilmten Platz verschwinden zu lassen. Diese „Institutions-Dokumentarfilme“ sind starre Bilder eines Ortes. Berlin allerdings ist ein solch schnelllebiges Fleckchen, dass eine stumme Beobachtung wahrscheinlich ins Nichts führen würde. Hick legt seinen Fokus völlig auf seine Protagonist*innen, die mit ihren außergewöhnlichen Lebensgeschichten bewegen und den Film auf ihren Schultern tragen. 

Die Stigmatisierung der porträtierten Gruppe(n) in den Medien ist real. Manchmal hört man von „linken Chaoten“ (vor allem, wenn es um die Autonomen geht), manchmal wird sich über „Gender Gaga“ lustig gemacht. Trotzdem fällt Hick nicht in die Falle, die Szene, die er porträtiert, zu idolisieren. Dazu muss er nicht einmal implizite Kameraarbeit anwenden, sondern er lässt seine Charaktere offen über ihre Geschichte und Eindrücke reden. Kleine Rivalitäten zwischen der letzten Generation und der neuen, von der stadtbekannten Dragqueen Gloria Viagra, reichen schon, um nicht in eine einseitige Berichterstattung zu fallen. Außerdem bildet sein Film selbst keinen Safe-Space, in dem nur affirmierende Worte erlaubt sind. Bei Demos gibt es Gegendemos: „Transfrauen sind Männer“, hört man ein eine alte Frau brüllen. Schnitt. Eine weinende Betroffene. Wer das Gewaltmonopol besitzt, macht der Film deutlich.  

Queer Exile Berlin hat auch intermediale Qualitäten. Er lässt Archiv-, Analog-, Protest- und Dokumentarfilmmaterial ineinanderfließen. Außerhalb dessen zeigt sich der Film wenig experimentell und reiht sich in eine Reihe mit Filmen wie Berlin Utopiekadaver (2024) von Johannes Blume ein. Blumes Films gelingt es jedoch besser, Kunst, Protest und Film zu verbinden und die entscheidende Rolle der Kunst herauszustellen. Einige von Hicks Versuchen, die Werke seiner Protagonist*innen einzubinden, wirken erzwungen und übersetzen sich nicht vollends in die Erzählung des Films. Einmal gelingt es jedoch zur Perfektion: Die schaurig expliziten Bilder einer Brustvergrößerungspperation der trans Frau Eunice werden mit transzendenten Technobeats unterlegt und geschnitten, als wäre es Performancekunst. Hier erreicht der Film den Höhepunkt seiner Radikalität: Er zeigt die Barrage aus Blut und Tränen, die hinter vieler dieser Menschen stehen. Dabei findet man keinen Hauch von Polemik, sondern echtes Mitgefühl. 

Queer Exile Berlin ist ein Film für Nicht-Berliner, für Szenefremde und Leute, die der Fehldarstellung mancher Gruppen auf den Leim gegangen sind. Der Film leistet so vor allem Arbeit des Sichtbarmachens. Denn die Darstellung solcher Lebensgeschichten dürfte wohl die ideologiefreiste Art sein, die Wahrheit über die absolute Daseinsberechtigung (oder vielmehr: ihre große Wichtigkeit) auch „zweifelnden“ Menschen zu zeigen. Während die bunten Gesten Grenzen sprengen, sieht man die graue Stadt gleichgültig zurückstarren. Berlin ist schon ein besonderer Ort, und Jochen Hick fängt diesen souverän ein.

Queer Exile Berlin (2023)

Queere Menschen aus aller Welt haben Berlin zu dem gemacht, was es heute ist. Viele verlassen ihre Heimat, weil sie es wollen, andere, weil sie es müssen. Dieser Film begleitet einige von ihnen. Das queere Universum Berlins spiegelt die Bewegungen in der Welt wider und entwickelt sich ständig weiter. In den letzten Jahrzehnten hat sich eine Vielzahl von Geschlechteridentitäten etabliert. Heute sind schwul und lesbisch nur zwei Begriffe unter vielen. QUEER EXILE BERLIN ist der dritte Teil der queeren Berlin-Dokumentarfilm-Trilogie nach OUT IN EAST BERLIN (2013) und MY WONDERFUL WEST BERLIN (2017). (Quelle: missingFILMs)

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