Lenas Klasse

Eine Filmkritik von Thorsten Hanisch

Das System in Dir

Sicher, Systemkritik ist so alt wie das Medium Film selbst, aber es ist doch eher selten, dass die Kritik mit solch einer Eindringlichkeit und mit solch einer Lust am Aufruhr geäußert wird. Man kann nach der Ansicht von Lenas Klasse nur noch auf mehr junge Künstler wie den 1988 geborenen Regisseur Ivan I. Tverdovskiy hoffen, die so einfühlsam wie kaltschnäuzig den Finger dahin legen, wo’s wehtut. Auch einen Film wie Lenas Klasse kann man sich aus Honig-im-Kopf-Deutschland nur wünschen.
Lena hat eine Muskelkrankheit, sitzt deswegen im Rollstuhl und wurde jahrelang in ihrem ärmlichen Zuhause unterrichtet. Doch nun will sie in die Schule, einen Abschluss machen, auf eine bessere Zukunft hoffen. Sie kommt in eine spezielle Klasse für Menschen mit körperlichen oder geistigen Behinderungen, die am Ende des Schuljahres von einer Kommission geprüft werden. Wenn die Resultate positiv ausfallen, bekommen sie die Chance, in eine reguläre Klasse integriert zu werden. Doch Ausgrenzung ist von Anfang an Programm: Es gibt keinerlei Aufzüge oder Rampen und um zum völlig separat gelegenen Klassenzimmer zu gelangen, muss man auch erstmal ein Gittertor aufmachen. Den Lehrern ist ihre Aufgabe eher lästig, sämtliche Wünsche Lenas, sich komplexeren Stoffe zu widmen, werden abgewürgt. Widerwillig fügt sich die Frustrierte dem stumpfen Schulalltag, der hübsche Epileptiker Anton ist ihr einziger Lichtblick. Die beiden verlieben sich, doch damit beginnen die Probleme erst wirklich …

Das mit einer erstaunlich agilen Kamera gedrehte Sozialdrama fängt an wie 12.000 andere Sozialdramen auch. Protagonistin mit Handicap kommt in eine neue Umgebung und muss sich einfügen, was anfänglich auch gut klappt. Lena gewinnt schnell neue Freunde, mit denen sie allerhand Blödsinn mitmacht, die Antagonisten sind auch schnell klar, natürlich die Erwachsenen (die Hänseleien der regulären Schüler muten in Relation fast schon wieder harmlos an): spaßbremsende Gesetzeshüter, verständnislose Mütter und vor allem desinteressierte Lehrkräfte, die ohne jede Motivation ihr Tagespensum abfrühstücken und nicht das geringste Interesse daran haben, eventuell verborgene Talente in ihren Schützlingen wachzurütteln.

Doch Lenas Klasse ergießt sich nicht in Selbstmitleid, sondern bleibt realistisch-nüchtern und geht auch noch einen Schritt weiter: Er verkneift sich etwaige pathetische „Die sind auch nicht anders als andere“-Botschaften, sondern zeichnet seine jugendlichen Protagonisten mit schroffen, aber doch genauen Pinselstrichen nicht nur als Opfer einer herzlosen Bildungspolitik, sondern auch als Opfer einer sozial völlig ausgehöhlten Gesellschaft, die auf Probleme nur mit Kaltherzigkeit oder Gewalt reagieren kann. Das macht sich auch innerhalb der Gruppe bemerkbar, das anfängliche Bild von den liebenswerten Outsidern bekommt schnell Risse: Als ein Mitschüler bei einer gefährlichen Mutprobe ums Leben kommt, wird zum Entsetzten von Lena ausgesprochen zynisch damit umgegangen (man feiert witzelnd den toten Mitschüler in der Cafeteria), und später, als Eifersüchteleien ins Spiel kommen, weiß man sich nur mit brutaler Gewalt zu helfen.

Aber, und das ist der Punkt: Wer kann es der Gruppe ernsthaft vorwerfen? Sie ist letztendlich nur ein Produkt ihrer Umwelt und natürlich ganz besonders der jeweiligen Eltern. Exemplarisch wird an der Mutter von Anton und an einer Lehrerin klargemacht, dass schon bei den Erziehungsberechtigten, die ihrem Nachwuchs Vorbild sein, ihn formen sollten, bei geringen Anlässen körperliche Gewalt angewandt wird. Daher wundert es nicht wirklich, dass die Kinder bei Problemen ähnlich agieren.

Das eigentlich Tolle: Lenas Klasse geht auch zum Ende hin nicht den einfachen Weg, obwohl dieser regelrecht auf dem Silbertablett liegen würde, sondern steuert auf wunderbar irritierende Schlussminuten zu, die gleichzeitig als hoffnungsvoller Ausklang und als brutal-sarkastisches Schlussfazit gelesen werden können.

Der Weg für Lena wird jedenfalls auch in Zukunft nicht leicht, ändern können nur wir das, wir vor der Leinwand.

Lenas Klasse

Sicher, Systemkritik ist so alt wie das Medium Film selbst, aber es ist doch eher selten, dass die Kritik mit solch einer Eindringlichkeit und mit solch einer Lust am Aufruhr geäußert wird. Man kann nach der Ansicht von „Lenas Klasse“ nur noch auf mehr junge Künstler wie den 1988 geborenen Regisseur Ivan I. Tverdovskiy hoffen, die so einfühlsam wie kaltschnäuzig den Finger dahin legen, wo’s wehtut.
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