Jahresrückblick

Jahresrückblick: Die besten Filme 2023: Eine Chance, zu schweigen

Ein Beitrag von Sebastian Seidler

Das Ende des Jahres naht. Damit ist wieder Listenzeit. Den Anfang macht Kino-Zeit-Redakteur Sebastian Seidler.

Da ist es also wieder – das Ende des Jahres. Als Filmkritiker fange ich eigentlich schon ab Mitte des Jahres an, mir darüber Gedanken zu machen, wie sich mein Jahr in Filmen abbilden lässt. Was hat mich beschäftigt? Ziehen sich Themen durch meine Beschäftigung mit dem Kino? Und welche Filme sind geblieben, haben mich bis in den Schlaf beschäftigt?

Dieses Jahr war es – das ist es sonst nie – ziemlich einfach. Mit dem Ausklang des letzten Jahres und dem phänomenalen Aftersun knüpfte sich das thematische Band in dieses Jahr: Kindheit. Weibliche Kindheit. Irgendwie ist das eine schräge Formulierung: weibliche Kindheit. Die Kindheit von Mädchen ist auch nicht besser. Schon hier zeigt sich, dass es gar nicht so leicht ist, darüber zu sprechen, weil doch öfter von den Jungs die Rede ist: Die dürfen Abenteuer haben, jenseits vom Coming-of-Age, bei den Goonies und in Stand by Me, um zwei sehr bekannte Beispiele zu nennen.

Dieses Jahr waren es zwei Filme, die sich auf so intensive Weise mit der Wahrnehmung von Mädchen auseinandergesetzt haben, auf die Suche nach sinnlichen Bildern gegangen sind, die im Begriff sind Erinnerungen zu werden – The Quiet Girl und Tótem.  

Der kleine irische Film über den einen Sommer eines Mädchens bei Verwandten ist eine Offenbarung der Stille und definitiv mein Film des Jahres. Wie Regisseur Colm Bairéad in Bildern werdender Erinnerung von einer Öffnung des Erfahrungsraumes erzählt, seiner jungen Protagonistin einen Atem schenkt, ist ein Geschenk an das Kino. Außerdem fällt der wohl klügste Satz des Kinojahres: „Viele Leute verpassen die Chance, nichts zu sagen, und haben viel dabei verloren.“ 

Ein ganz anderes Thema: Mehrere großartige Filme haben es gar nicht erst ins Kino geschafft oder wurden mehr oder weniger unter Ausschluss der Öffentlichkeit gezeigt. An anderer Stelle in unserer Jahresrückblicksreihe schreiben wir darüber noch ausführlicher. Cristian Munigius so wichtigem Film über Rassismus und Xenophobie R.M.N. etwa blieb das Kino in Deutschland verwehrt. Es hat sich kein Verleih dafür gefunden. Schade.

Schraders Master Gardener wurde gleich auf DVD und Blu-ray herausgebracht, was bei der bildgewaltigen Größe dieses provokanten Meisterwerks eigentlich nicht sein darf. Wenn sich in diesem Film die Blüten entfalten, muss man im Dunkel sitzen. Das konnte man zumindest bei Claire Denis‘ Thrillerstudie Stars at Noon. In mehr als einer Handvoll Kinos war dieser mit Schweiß durchtränkte Film jedoch auch nicht zu sehen. Das beschäftigt mich  zunehmend: Wie sehr sich doch die Aufmerksamkeit auf die immer gleichen Großfilme richtet. Dann schreiben wir alle letztlich doch über Oppenheimer (vollkommen überschätzt) oder Barbie (eine reaktionäre Entkernung des Feminismus). Dabei hatte das Kinojahr noch so viel mehr zu bieten.

Einig werden sich viele bei Anatomie eines Falls sein. Ein Film, der weit mehr ist, als die bloße Auseinandersetzung zwischen Fiktion und Wahrheit. Es geht um die Gefahr davon, wenn das Private plötzlich an die Öffentlichkeit gezerrt wird, so nötig es auch sein mag: Die Blickwinkel sind von Emotionen durchtränkt. Jeder von uns wird sich an einen Streit erinnern, der, wenn aufgenommen, ein sehr schlechtes Licht auf uns geworfen hätte. Letztlich müssen wir, um unsere Emotionen zu erklären, immer Geschichten erfinden, hinzufügen oder beifügen, weil sie uns doch oftmals selbst ein Rätsel sind. Einfach grandios.  

The Quiet Girl, © Neue Visionen

Top 10 von Sebastian

  1.  The Quiet Girl
  2. Anatomie eines Falls
  3. Master Gardener
  4.  Stars at Noon
  5.  Holy Spider
  6. Das Lehrerzimmer
  7. Tótem
  8. How to Have Sex
  9. Blue Jean
  10. Bis ans Ende der Nacht

Top 3 Festivalfilme

  1. Do not Expect Too Much From The End of The World
  2. Poor Things
  3. Stepne

Top 3 Filmärgernisse

  1. Barbie
  2. Beau is Afraid
  3. The Old Oak