Darling der Woche

Darling der Woche: Erinnerungen an Broadway-Legende Stephen Sondheim

Ein Beitrag von Sophia Derda

Die Musicalwelt trauert um den Komponisten und Texter Stephen Sondheim, der am 26. November 2021 im Alter von 91 Jahren verstorben ist. Am Broadway ist er seit Jahrzehnten die unumstrittene Instanz in Sachen Musiktheater.

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Stephen Sondheim mit Elaine Stritch (l.) und Jane Russell am Set des Broadway Musicals "Company".

Sondheim galt als Broadway-Legende. 1957, also schon mit 27 Jahren, gelang ihm der Durchbruch im Musiktheater, als er die Texte zu Leonard Bernsteins Welterfolg West Side Story schrieb. Im Laufe seiner langen Karriere als Komponist und Texter wirkte er an weiteren Musical-Erfolgen wie Sweeney Todd, Gypsy und Sunday in the Park with George mit und gewann alle renommierten US-Preise. Für sein Schaffen wurde er unter Anderem mit acht Grammy Awards, ebenso vielen Tony Awards, einem Oscar und dem Pulitzer-Preis ausgezeichnet. 2015 erhielt er vom damaligen Präsidenten Barack Obama die Freiheitsmedaille, die höchste zivile Auszeichnung der Vereinigten Staaten. „Um es einfach zu sagen: Stephen hat das amerikanische Musical neu erfunden“, sagte Obama damals.

 

Die Anfänge

Nach seinen ersten Lebensjahren in New York, zog er im Alter von 10 Jahren mit seiner Mutter auf eine Farm in Pennsylvania. Wie es das Schicksal so wollte, lebte in der Nähe von ihnen der Musical-Produzent und Librettist Oscar Hammerstein II (Jahrmarkt der Liebe). Hammerstein II wurde wie ein Ersatzvater für ihn und begleitete die ersten Schritte des jungen Mannes in Richtung Komposition und dem Schreiben von Songtexten. Dieser Prozess wurde zum inoffiziellen, aber grundlegenden Kurs, durch den Sondheim lernte, Musicals zu ersinnen, verschiedene Theaterstücke zu adaptieren, an nicht-dramatischen Erzählungen zu arbeiten und eine originelle Geschichte zu entwickeln.

Nach ersten Drehbuchaufträgen und der Komposition für das Stück The Girls of Summer (1956), wurde er für Leonard Bernsteins West Side Story als Texter engagiert. Das Stück ist eine Adaption von William Shakespeares Tragödie Romeo und Julia und wurde in das New York City der 1950er Jahre verlegt. Seit langem sind die New Yorker Jugendbanden der Jets, die sich als „echte“ Amerikaner sehen, und der Sharks, die aus eingewanderten Puerto-Ricanern bestehen, verfeindet. Auf einer Tanzveranstaltung verlieben sich Maria, die Schwester des Shark-Anführers Bernardo, und Tony, der beste Freund Riffs, Anführer der Jets, ineinander. Die Liebenden schwören sich ewige Treue, doch der Kampf zwischen den Banden beherrscht ihr Leben. Mit dem überraschenden Erfolg des Musicals 1957 wurde Sondheim über Nacht Teil der erfolgreichsten Broadway-Produktion aller Zeiten. 1961 wurde die Story von Robert Wise und Jerome Robbins verfilmt.

 

Seine Welterfolge

Ähnlich hochkarätig ging es danach weiter. Gemeinsam mit der Komponistin Jule Styne schrieb er die Texte für das Musical Gypsy, das im Jahr 1959 erstmals am Broadway aufgeführt wurde. Das als „Mutter aller Musicals“ bezeichnete Stück handelt von Mama Rose, die keinen sehnlicheren Wunsch hat, als ihre Töchter im Rampenlicht zu sehen, wo sie sich selbst immer hingeträumt hatte. Ohne Rücksicht auf Verluste zerrt sie ihre Kinder auf die Bühne. Der Regisseur Mervyn LeRoy verfilmte das Musical im Jahr 1962 mit Rosalind Russell in der Hauptrolle. 

 

Für A Funny Thing Happened on the Way to the Forum, seine dritte Broadway-Produktion, arbeitete Sondheim zum ersten Mal sowohl als Komponist und auch Texter. Gemeinsam mit zwei Fernsehautoren schrieb er das Musical, das auf Komödien des antiken Dramatikers Plautus basiert. Die Show gewann sechs Tony Awards und lief zwischen 1962 und 1964 um die 1000 Mal am Broadway, länger als jede andere Original-Broadway-Produktion von Sondheim. Im alten Rom konkurrieren der junge Hero und der Hauptmann Miles Gloriosus um die schöne Philia. Ihr Wettstreit artet in einer aberwitzige Verwechslungskomödie aus. 1966 kam die erste filmische Adaption des Musicals in die Kinos, das in Deutschland unter dem Titel Toll trieben es die alten Römer bekannt ist, Regie führte Richard Lester und in den Hauptrollen waren Zero Mostel und Buster Keaton zu sehen. 

 

Nachdem er die Texte zu Do I Hear a Waltz? (1965) verfasste, konzentrierte sich Sondheim daraufhin ausschließlich auf Stücke, für die er sowohl die Musik als auch die Texte schrieb. Er gewann Tony Awards für die beste Filmmusik für Company (1970), ein Stück über die zeitgenössische Ehe und das Junggesellendasein, Follies (1971), eine Hommage an den Broadway des frühen 20. Jahrhunderts, A Little Night Music (1973) basierend auf Ingmar Bergmans Film Lächeln einer Sommernacht und Sweeney Todd: The Demon Barber of Fleet Street (1979), eine makabre Geschichte, die im London der viktorianischen Zeit spielt. 2007 verfilmte der Regisseur Tim Burton das Musical mit Johnny Depp und Helena Bonham Carter in den Hauptrollen.

 

Sunday In The Park With George erzählt im 1. Akt die Entstehungsgeschichte des Gemäldes Ein Sonntagnachmittag auf der Insel La Grande Jatte von dem Maler Georges Seurat und verbindet die Personen des Gemäldes mit Seurats Privatleben. Der 2. Akt spielt 100 Jahre später: Seurats Enkel, ebenfalls bildender Künstler, befindet sich in einer Lebens- und Schaffenskrise, die er schließlich überwindet, indem er auf die Insel zurückkehrt, die durch das Gemälde seines Großvaters berühmt wurde. Musikalisch von den französischen Impressionisten ebenso inspiriert wie von den Musikern Philip Glass und Steve Reich entstand eine farbig-filigrane und hoch-emotionale Partitur für dieses Werk, das Sondheim gemeinsam mit dem Regisseur und Drehbuchautor James Lapine schrieb. Premiere feierte das mit dem Pulitzer-Preis ausgezeichnete Musical 1983. Zur Zeit ist eine Inszenierung des Musicals mit dem Schauspieler Jake Gyllenhaal in der Hauptrolle am Broadway zu sehen.

 

Seine Arbeitsweise 

„Ich habe immer gewissenhaft versucht, das Gleiche nicht zweimal zu tun“, sagte Sondheim über seine Karriere in einem Interview mit dem New York Times Magazine im Jahr 2000, als er 70 Jahre alt wurde. „Ich sehe mich selbst außerhalb des Mainstreams, denn alles was in Musicals passiert ist industriell und formelhaft. Und wenn das bedeutet, dass ich aus der Mode bin, dann bin ich aus der Mode. Ein Einzelgänger zu sein, bedeutet nicht nur Anders zu sein. Es geht darum eine Vision zu haben, wie die Show aussehen könnte.“ Sondheims Musicals lassen sich inhaltlich und musikalisch als anspruchsvoll beschreiben. Es bedarf schon einer umfassenden Bildung und einigem Vertrauen in das Publikum, Vorlagen wie die des antiken Dramatikers Plautus zu wählen. Die Charaktere, die er dabei entwickelte, waren denn auch nie harmlos. In Sweeney Todd wütet ein Barbier, der nach Verlust von Frau und Kind im Rachewahn Kunden tötet. Sondheim, der auch als Broadway’s Bad Boy gehandelt wurde, hielt dieses Werk für eine „schwarze Operette“. Doch auch ein Stück wie Assassins (1990) ging nicht als kitschiges Stück des platten Entertainments in die Musicalgeschichte ein. Darin werden einige historisch verbürgte Attentäter auf die Bühne geschickt, die versucht hatten, verschiedene US-Präsidenten umzubringen.

 

Sondheim war allerdings kein klassischer Hit-Schreiber. Er verstand es, seine Songs aus der dramatischen Situation heraus zu entwickeln. Sie funktionieren auf dieser Ebene als Teil des Bühnengeschehens. Ihr Eigenwert wird zur Nebensache. Die meisten Kritiker*innen sind sich einig, dass sein Werk eine Abkehr von den traditionelleren und sentimentalen Musicals der ersten Jahrzehnte des 20. Jahrhunderts darstellt und damit eine beachtliche Kehrtwende in der Musiktheater-Szene heraufbeschwor. 

 

Zu seinem 90. Geburtstag im März 2020 war ein Broadway-Revival von seinem Musical Company (1970) geplant, was durch die COVID-19 Pandemie leider verschoben werden musste. Die New York Times widmete ihm einen Sonderteil und das virtuelle Konzert Take Me to the World: A Sondheim 90th Birthday Celebration, in dem Broadway-Darsteller*innen seine Lieder interpretieren. Auf dem YouTube-Kanal von Broadway.com ist es bis heute online. 

Stephen, wir werden dich vermissen!

 

Am 09. Dezember 2021 kommt eine Neuauflage von West Side Story in die deutschen Kinos. Regisseur Steven Spielberg hat das Musical adaptiert.

 

Der Netflix-Film Tick, Tick…Boom! von Lin-Manuel Miranda ist eine Adaptation des gleichnamigen halbautobiografischen Musicals von Jonathan Larson, in dem es um einen aufstrebenden Komponisten geht. Stephen Sondheim fungiert in dem Film als ein Mentor für ihn und wird von Bradley Whitford gespielt. Zum Ende des Films ist aber auf dem Anrufbeantworter des Protagonisten Sondheims echte Stimme zu hören. Laut Lin-Manuel Miranda äußerte Sondheim, nachdem er den Film gesehen hatte, Bedenken bezüglich der Nachricht auf dem Anrufbeantworter zu haben, die er Larson hinterlässt. Sondheim bot an, sie so umzuschreiben, dass sie mehr nach ihm klingen würde, und ließ Miranda außerdem wissen, dass er seine eigene Stimme für die Voicemail zur Verfügung stellen könnte, falls Whitford für die Nachdrehs nicht zur Verfügung stünde — so kam Sondheims versteckter Auftritt zustande.