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Jahresrückblick

Die besten Filme 2023: Wir müssen reden (oder singen)

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

In diesem Teil des Kino-Zeit-Jahresrückblicks lässt Andreas Köhnemann die Bilder und Worte aus Filmen vorbeiziehen, die ihm 2023 besonders in Erinnerung geblieben sind.

Meinungen
Filmstills aus The Adults / All of Us Strangers / Past Lives
The Adults / All of Us Strangers / Past Lives

Show, don’t tell. So lautet eine der obersten Devisen des Kinos. Bloß nicht zu viel labern! Auf gar keinen Fall alles erklären! Das ist sicher richtig. Bei einigen meiner diesjährigen Filmfavoriten schätze ich auch gerade die virtuose Bildsprache. Ich bewundere, wie Timm Kröger in Die Theorie von Allem in seinen Schwarz-Weiß-Aufnahmen (Alb-)Traummotive erzeugt, die nicht direkt berühmte Klassiker zitieren, sondern mehr wie verzerrte Erinnerungen an Vertrautes wirken. Oder wie İlker Çatak in Das Lehrerzimmer durch die Kameraarbeit (unterstützt von einem hervorragenden Score) eine Thriller-Stimmung in einem vermeintlich alltäglichen Schulkosmos aufbaut. Oder wie Raven Jackson in All Dirt Roads Taste of Salt, einem meiner liebsten Festivalbeiträge des Jahres, über mehrere Minuten hinweg eine Umarmung erfasst und dabei die Beziehung zweier Menschen wunderbar leise charakterisiert.

Oft waren es in diesem Jahr aber tatsächlich gesprochene, auf Papier gebrachte oder gesungene Worte, die mich in Filmen beeindruckt haben. Weil sie so gut geschrieben und/oder so überzeugend dargeboten wurden. Eventuell passt das ja auch perfekt in ein Jahr, in dem es durch zwei große Streiks in Hollywood viel um die Leistungen von Drehbuchautor:innen und Schauspieler:innen ging. Was Figuren in Filmen sagen und wie sie es tun – das kann den Filmen Herz und Seele verleihen. Vermutlich habe ich 2023 in einem Kinosaal nie lauter gelacht, als in dem Moment, in dem Alma Pöysti in Aki Kaurismäkis Fallende Blätter völlig trocken zu Jussi Vatanen sagt: „Ich hab‘ noch nie so viel gelacht!“ Da haben sich die von ihnen verkörperten Figuren gerade bei einem ziemlich unbeholfenen Date einen Zombiefilm angeschaut. Traumpaar des Jahres, finde ich. Und selten haben mich geschriebene Worte tiefer berührt, als die Botschaft, die Anaita Wali Zada als Fabrikarbeiterin in Babak Jalalis Fremont in einem Glückskeks hinterlässt: „Desperate for a Dream“, „Suche sehnlichst einen Traum“. Wie unendlich toll!

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Es gab 2023 einige Filme, die es schafften, die Sprache zwischen Menschen, die sich nahe sind, so glaubhaft zu zeigen, dass ich mich einige Male fast ertappt fühlte. Zum Beispiel, was die Kommunikation zwischen Geschwistern betrifft. In den improvisiert anmutenden Sequenzen in Dustin Guy Defas The Adults, in denen das zentrale Geschwistertrio Eric, Rachel und Maggie miteinander interagiert, kommt es zum Einsatz höchst seltsamer Worte und Gesten. Die drei inzwischen erwachsenen und spürbar voneinander entfremdeten Figuren verfallen in aberwitzige Rollen mit verstellten Stimmen und in betont alberne Bewegungsabläufe, die einst in der Kindheit und Jugend gemeinsam erfunden und einstudiert wurden, und die sich offenbar bis heute eingebrannt haben. Diese Ausweichmanöver dienen nun als Mittel der Verständigung – bis schließlich doch Ansätze einer ernsthaften Konfrontation folgen. Ich erinnere mich, wie ich mit meiner drei Jahre älteren Schwester früher ebenfalls eine ganz eigene Sprache und besondere Umgangsformen hatte – und ich glaube, dass dies noch nie so treffend auf der Leinwand abgebildet wurde wie hier.

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So unterschiedliche Werke wie Spoiler Alarm, Anatomie eines Falls und Past Lives handeln (unter anderem) von Sprache in einer Liebesbeziehung. Mit Menschen, mit denen wir eine solche Beziehung führen, entwickeln wir eine Art zu reden, die für jede außenstehende Person höchstwahrscheinlich total irritierend, weder nachvollzieh- noch dauerhaft aushaltbar ist. Sie ist (von außen betrachtet) weder allzu lustig, romantisch, sexy oder praktikabel; sie dürfte nach allen Regeln der Kommunikationswissenschaft eigentlich gar nicht funktionieren – tut sie aber, für exakt die Menschen, die Teil dieser Beziehung sind. Diese Sprache entsteht, wenn wir damit aufgehört haben, Teile unserer Persönlichkeit zu verbergen (weil sie vielleicht nicht attraktiv genug sind), und wenn selbst die Phasen unserer Biografie, die wir zunächst aus unserem sorgfältig kuratierten Lebensbild herausgestrichen haben, dem Gegenüber bekannt sind.

In Michael Showalters Spoiler Alarm erreichen Michael und Kit dieses Level, nachdem Michael Kit offenbart hat, dass er eine Obsession für die Smurfs (die Schlümpfe) hat. Ja, sie sind wirklich überall in Michaels Wohnung: als Poster oder Tapete an den Wänden, als Figürchen auf jeder denkbaren Ablagefläche, als Motive auf der Bettwäsche. Als Smurfgate gelüftet ist, können sich Michael und Kit alles sagen, über ihre Traumata, Ängste und Fehltritte – in einer Weise, die sich irgendwann nur noch den beiden erschließt. Dann erkennt Kit auch sofort, wenn Michael in einer dramatischen Situation Shirley MacLaine imitiert. Schön (und verdammt furchteinflößend), wenn wir einander nichts mehr vormachen können. Und wenn es einem Film gelingt, diesen gruselig-faszinierenden Prozess in einer Beziehung erfahrbar zu machen.

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In Justine Triets Anatomie eines Falls erleben wir die bittere Variante dieser Kommunikationsebene. In einer Szene streitet sich ein Ehepaar heftig. Als Unbeteiligte könnten wir den Eindruck gewinnen, dass diese beiden sich geradezu hassen müssen. Die Tonaufnahme des Streitgesprächs soll der Staatsanwaltschaft später dazu dienen, die Protagonistin Sandra zu diskreditieren. In erster Linie demonstriert dieser herbe Wortwechsel jedoch lediglich, wie gut Sandra und ihr Mann Samuel sich kannten. Sie wussten, wie sie einander am härtesten treffen können, wo die exakten Schmerzpunkte des Gegenübers liegen. Dass Sandra womöglich die Mörderin ihres Gatten ist, können wir am Ende des Films nicht mit absoluter Sicherheit ausschließen. Dass sie und Samuel einander geliebt haben, nicht in strahlender Hollywood-Manier, sondern auf eine Weise, die unter schlechten Bedingungen nur noch wehtut – daran besteht indes dank dieses durchdringenden (und umwerfend gespielten) Dialogs kein Zweifel.

Verblüffend unaufgeregt erzählt hingegen Celine Song in Past Lives von Emotionen. Die verheiratete Heldin Nora begegnet nach langer Zeit ihrem Kindheitsschwarm Hae Sung wieder. Das wird in herrlichen Passagen eingefangen. Noch bezaubernder finde ich allerdings, wie die Dynamik zwischen Nora und ihrem Ehemann Arthur geschildert wird. Kein schnödes Eifersuchtsdrama wird entfacht, keine feigen Lügen entspinnen sich. Stattdessen: einfach nur Ehrlichkeit. Habe ich jemals zwei so reife, reflektierte Menschen auf der Leinwand gesehen? Die beiden kommunizieren in entscheidenden Situationen so klar miteinander, dass in anderen Augenblicken dann gar keine Worte mehr vonnöten sind. Da reicht es, einander auf der windigen nächtlichen Straße im East Village in die Arme zu schließen, um Noras wehmütige Tränen zu bekämpfen.

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In Kamil Krawczyckis Elefant und in Andrew Haighs All of Us Strangers finden die Figuren in intensiven Gesprächen zuweilen erstaunlich superbe Worte füreinander („Ich hätte es mehr genießen sollen, dass du mich in den Wahnsinn treibst.“ – Wie hinreißend ist das denn bitte?!). Gelegentlich nutzen sie aber auch den Gesang, um sich mitzuteilen. „Ich will die Nacht durchtanzen mit dir“, singt Dawid für seinen neuen Freund Bartek zärtlich am Klavier. Der Zeitreisende Adam singt mit seinen Eltern beim Schmücken des Weihnachtsbaums Always on My Mind in der Dance-Version der Pet Shop Boys. Aufrichtiger lässt sich unverbrüchliche Zuneigung doch gar nicht zum Ausdruck bringen. Manchmal hält die angeblich so banale Poetik der Popmusik die besten Skripte für uns bereit; wir müssen nur die erforderliche Verwegenheit haben, sie aufzugreifen.

Wenn wir all das aufgeben, was ich hier versucht habe, zu beschreiben – den trockenen Humor, den sehnlichen Traum (und dessen Artikulation), die mal im positiven, mal im negativen Sinne ungeheuerliche Intimität im Wortwechsel, die offen-unverstellte Hingabe an das Schöne und an das Erschreckende –, dann bleibt eine ekelhaft kalte Welt. Das zeigt uns Bertrand Bonellos La bête. Eine audiovisuelle Bestie, die mit einem furiosen, gellenden Verzweiflungsschrei von Léa Seydoux endet, der dieses Jahr letztlich leider auch sehr adäquat zusammenfasst.

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P.S.: Stimmt, Steven Spielbergs Die Fabelmans ist ebenfalls noch in meinen Top 10. Das liegt an meinem Michelle-Williams-Syndrom, über das ich an anderer Stelle schon mal geschrieben habe (und von dem ich auch in diesem Jahr nicht geheilt wurde, danke der Nachfrage).

Top 10 von Andreas

  1. Past Lives – In einem anderen Leben
  2. Anatomie eines Falls
  3. Die Theorie von Allem
  4. Das Lehrerzimmer
  5. Spoiler Alarm
  6. The Adults
  7. Fallende Blätter
  8. Fremont
  9. Die Fabelmans
  10. Elefant

Top 3 Festivalfilme

  1. La bête
  2. All Dirt Roads Taste of Salt
  3. All of Us Strangers

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