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Ein Filmemacher und ein Musikjournalist verbringen den Lockdown zusammen. Das ergibt natürlich einen Film mit viel Text und vielen Fußnoten.

Hors du temps (2024)

Eine Filmkritik von Mathis Raabe

Gefangen im Lockdown-Kino

Olivier Assayas ist ein umtriebiger und eklektischer Filmemacher. Sein 18. Film ist nun zwei Dinge zugleich: ein autobiografischer Film, was man von ihm bereits aus „Das weiße Blatt“ oder „Die wilde Zeit“ kennt, und ein Lockdown-Film, was man in seiner Filmografie eigentlich nicht vermisst hat. Dialoge übers richtige Händewaschen zu hören und darüber, ob es wohl moralisch vertretbar sei, nun alles bei Amazon zu bestellen – das wirkt schon jetzt aus der Zeit gefallen und vielleicht zugleich noch nicht lang genug her, um darüber wieder herzhaft zu lachen.

Interessanter ist das Thema, mit dem Suspended Time beginnt: das Heimkehren an Orte der Kindheit. Ich selbst fühle mich oft merkwürdig entfremdet, wenn ich an solche Orte zurückkehre. Ich bin ja jetzt ein ganz anderer Mensch als damals. Und doch sind diese Orte natürlich stark aufgeladen mit Erinnerungen und Gefühlen. Mit den Menschen, mit denen man aufgewachsen ist, kann das ganz ähnlich sein. Vielleicht kennt einen niemand so gut wie die, man hat ja viele Jahre sehr intensiv Zeit miteinander verbracht. Andrerseits ist das auch eine Weile her, und man ist eben jetzt ein ganz anderer Mensch.

So geht es auch den zwei Brüdern, die in Suspended Time zusammen mit ihren Partnerinnen im großväterlichen Landhaus zusammenkommen, um sich von der Welt zu isolieren. Paul (Micha Lescot) ist Filmemacher, Etienne (Vincent Macaigne) Musikjournalist. Dass Assaya in diesen Figuren Autobiografisches verarbeitet, liegt auf der Hand. In essayistischen Zwischensequenzen werden die Ebenen verwirrt: Da stellt der Off-Erzähler zwar dasselbe Landhaus vor, das in der fiktionalisierten Handlungen zu sehen ist; es werden aber auch Stationen aus Assayas Leben erwähnt, die Namen seiner echten Weggefährten.

„Hat das Kino den Bezug zur Natur verloren?“, fragt sich der Off-Erzähler und ruft in Erinnerung, dass Assayas aus der Filmkritik kommt. Ob es nicht funktionieren könne wie die Seerosenbilder von Claude Monet? Der Film korrigiert das sogleich: Ausführlich wird in dieser Zwischensequenz die Flora der Gegend vorgestellt.

Die Fiktionalisierung seiner selbst kommt zum Glück mit Selbstironie daher: Schon am ersten gezeigten Abend kommen die Brüder aus dem Namedropping gar nicht heraus. Wen sie in ihrer Jugend nicht alles gekannt und mit wem sie zusammen Partys gefeiert haben: Regisseure, Schauspielende, Sängerinnen. Natürlich wird gerade französische Filmgeschichte ständig referenziert: Noch beim Putzen hört Carole (Nine D’Urso) ein altes Radiogespräch mit Jean Renoir.

In einem Interview, das er per ZOOM gibt, erkennt Paul auf sehr performative Weise an, ökonomisch privilegiert zu sein und deshalb unter dem Lockdown weniger zu leiden als andere. Dieses Problem hat Suspended Time natürlich auch und inszeniert seine Figuren deshalb auch nicht als Leidende, sondern als prätentiöse Käuze. Im selben Interview empfiehlt Paul Literatur, die er selbst gar nicht gelesen hat, und Carole macht sich bald darüber lustig, dass es ihm geradezu körperlich unmöglich zu sein scheint, ohne Referenzen auf Kunst oder Literatur zu sprechen. Allerdings verhält sich das mit den Zwischensequenzen, die mutmaßlich aus Assayas Perspektive sprechen, nicht anders. Suspended Time ist ein Film mit vielen Fußnoten.

Das Covid-Thema und die Kunst werden aufeinander bezogen: Ob es nun moralisch sei, einen Film zu drehen in diesen Zeiten, diskutiert Paul mit einer Kollegin, und welches Ansteckrisiko Kinos bergen – so als hätte Assaya sich selbst eine Begründung ins Drehbuch schreiben müssen dafür, dass er einen Lockdown-Film gedreht hat, mit nur einer Location und vier Figuren. Als hätte er als alter Bresson-Fan nicht eh einen solchen minimalistischen Film drehen können, und als hätten wir nicht eh schon diverse Filme mit Produktionshintergrund Lockdown gesehen – schon vor drei Jahren lief Céline Sciammas Petite Maman bei der Berlinale.

In seinen besten Momenten ist Suspended Time ein Essayfilm, der die Grenze zwischen Autobiografie und Fiktion verwischt und auch mit parodistischen Elementen arbeitet, um sich nicht zu sehr selbst zu überhöhen. Das Label „Lockdown-Film“ ist insofern vielleicht nicht ganz fair. Die Pandemie fungiert als Setting, als Hilfsmittel, um diese persönliche Geschichte zu erzählen. Trotzdem muss man lange Szenen ertragen, in denen aus Mikroaggressionen Streit wird: Paul hat große Angst vor einer Ansteckung, Etienne dagegen findet das Thema medial übertrieben. Nur Micha Lescots nervöses Schauspiel kann diese Szenen noch halbwegs unterhaltsam machen. Sofern man nicht Olivier Assays ist, kann man aber wahrscheinlich mit keiner der Figuren sonderlich mitfühlen. Und nochmal: Lachen über Dialogzeilen übers richtige Händewaschen? Damit rechnet man eher im örtlichen Kleinkunsttheater. Die Lockdowns sind vorbei, im Lockdown-Kino aber sind wir scheinbar immer noch gefangen.

Hors du temps (2024)

April 2020: Der Filmregisseur Etienne und sein Bruder Paul, ein Musikjournalist, verbringen zusammen mit ihren neuen Partnerinnen Morgane und Carole den Lockdown im Haus ihrer Eltern. Jedes Zimmer, jeder Gegenstand erinnert sie an ihre Kindheit und an abwesende Personen – ihre Eltern, Nachbar*innen … Wie viel trennt die Brüder voneinander und von ihren gemeinsamen Wurzeln? Während die Welt um sie herum immer beunruhigender wird, schleicht sich das Gefühl der Unwirklichkeit und eine verstörende Fremdheit in ihren Alltag ein. (Quelle: Berlinale)

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Meinungen

wignanak-hp · 23.02.2024

Olivier Assayas. Dieser Name steht für Filme wie DIE WOLKEN VON SILS MARIA oder PERONAL SHOPPER. Dieser Film hat mit beiden wenig gemein. Er kommt mir vor wie ein Kreisen um sich selbst, an dem wir als Zuschauer gnädigerweise teilnehmen dürfen. Die Dialoge sind alltäglich und banal, nicht nur die Corona geschuldeten. Wenn über Musik oder Film diskutiert wird, ist das für den Zuschauer belanglos, wenn er nicht gerade auf der Höhe der Diskussion ist. Die angesprochene Ironie kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass dieser Film eigentlich uninteressant und im Grunde langweilig ist.