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Mut zur Lücke: 2001: Odyssee im Weltraum

Ein Beitrag von Mathis Raabe

Der Kanon ist ein lähmender Imperativ. Eigentlich sollte man alles gesehen haben, die gesamte Filmgeschichte. Hat man aber nicht. In dieser Reihe schreiben unsere Autor*innen über eben jene Lücken, über die man sonst gerne schweigt. Diesmal ist es „2001: Odyssee im Weltraum“. Wie, den hat Mathis Raabe noch nicht gesehen?

Meinungen
2001: Odyssee im Weltraum

VOR DEM FILM

In der zehnjährlichen Kritiker*innenbefragung des britischen Filmmagazins Sight & Sound wurde kürzlich Chantal Akermans Jeanne Dielman zum besten Film aller Zeiten gekürt. Das bot der Filmwelt ein paar Tage lang Stoff für fragwürdige Diskussionen darüber, ob der große Pool befragter Kritiker*innen möglicherweise von gesellschaftlichem Zeitgeist (lies: Fortschritt) beeinflusst sei. Parallel dazu veröffentlichte Sight & Sound noch eine weitere Liste mit dem gleichen Thema, nur hatten in diesem Fall Regisseur*innen abgestimmt. Der Spitzenreiter dieser Liste verursachte allerdings keine Diskussionen in Paul Schraders Facebook-Kommentarspalte. Es war Stanley Kubricks 2001: Odyssee im Weltraum. Dass die Kanonisierung männlicher Filmemacher bereits weiter fortgeschritten und damit weniger kontrovers ist, könnte zumindest einer der Gründe für diese Ungleichbehandlung sein.

"2001 Match Cut"
Der berühmte Match Cut

Ich muss leider so vage formulieren, denn ich habe diesen womöglich besten Film aller Zeiten bislang nicht gesehen. Vielleicht ist es der Ruf des Monumentalen, der mich abgeschreckt hat. Zwar beträgt die Erzählzeit kaum zweieinhalb Stunden, die erzählte Zeit beträgt aber, wenn man den berühmten Prolog bei den Hominiden mit bedenkt, Millionen von Jahren. Vielleicht ist es auch die Tatsache, dass ich besagten Prolog und ein paar andere berühmte Sequenzen aus 2001 bereits kenne, weil sie mir einst in Uni-Vorlesungen vorgespielt wurden und weil sie so vielfach in anderen Filmen zitiert worden sind. Auch ich kann im Kino aufspringen und „2001!“ rufen und mir so Cineastenpunkte verdienen, wenn einmal wieder der berühmte Match Cut von einem Knochen auf ein Raumschiff zitiert wird oder wenn, aus welchem Grund auch immer, Also sprach Zarathustra von Richard Strauss läuft.

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Aber ich kenne all das eben nur aus dem Zusammenhang gerissen. Gut also, dass es eine Kino-Zeit-Reihe gibt, die mich ermutigt. Nicht weil mir filmische Lücken peinlich wären – kein Mensch kann alles gesehen haben. Dafür kenne ich mich zum Beispiel vortrefflich im Oeuvre von Jackie Chan aus und habe alle Teile von Slumber Party Massacre gesehen. Aber weil aufgeschobene To-dos bekanntlich nur schwerer werden, je länger man sie aufschiebt.

 

NACH DEM FILM

Bleiben wir kurz beim Prolog. Im Laufe dessen wurden alle meine Befürchtungen erst bestätigt und dann beiseite gewischt. Die streitenden Affen haben auch im Kontext eine unfreiwillige Komik – nicht umsonst sind sie neben Filmwissenschaftsseminaren auch bei den Simpsons schon zitiert worden. Vor allem aber riefen sie mir sofort die prätentiös anmutende Ambition dessen, was Kubrick vor hat, ins Bewusstsein: eine Erforschung des Menschseins von der Urzeit bis in die Zukunft? Dann aber fällt ein mysteriöser Monolith aus dem Himmel und es kommt zum Brudermord, und jetzt verstehe ich, was unter einer „mythologisierten Evolutionsgeschichte“ zu verstehen ist. Es ist eine Art biblisches Ursündenmotiv, das hier gezeigt wird: die Entdeckung der Gewalt. Statt in religiöse Fiktion ist sie nun in Evolutionstheorie eingebettet, eigentlich aber doch wieder zu einer möglichst plakativen und beispielhaften Geschichte mythologisiert, so wie es auch die Bibel tut, nur halt mit Menschenaffen. Nun bin ich doch fasziniert vom Konzept und bin wieder an Bord, während auch die Filmhandlung an Bord einer Raumstation umzieht.

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An allem, was folgt, habe ich große Freude. Der Begriff „Weltraumoper“ bezeichnet zwar etwas anderes (mit sehr viel handlungsorientierterer Erzählung), würde aber eigentlich auf 2001 gut passen. Denn der Film ist aufgebaut wie ein Werk der Klassischen Musik, inklusive Ouvertüre, während der die Leinwand noch schwarz bleibt. Dass die Bild- und Tonebenen, die das Medium vereint, natürlich auch einzeln bespielt werden können, sieht man in dieser Form nur selten im Erzählkino. Überhaupt: Über lange Strecken des Films fühle ich mich, als würde ich einem Klassik-Konzert mit Bebilderung lauschen – was ich angenehm finde. Besonders schön: Neben Richard und Johann Strauss ist auch der tolle ungarische Avantgarde-Komponist György Ligeti zu hören. Sein Stück Atmosphères ist ein Schlüsselwerk der Neuen Musik und vor allem der von Ligeti entwickelten Mikropolyphonie: Eine große Zahl musikalischer Stimmen, teils dissonant oder mit unterschiedlichen Tempi, ertönt gleichzeitig, sodass der Effekt dichter Klang-Cluster entsteht.

Die Bebilderung dieses Konzerts hat sicher nicht mehr so viel Strahlkraft wie vor 55 Jahren. Damals muss es ebenso aufwendig wie kreativ gewesen sein, diese Bilder des Weltraums mit optischen statt digitalen Effekten zu erzeugen. Inzwischen habe ich ähnliche Bilder selbst in billig produzierten Star-Wars-Rip-offs gesehen (Empfehlungen: Starcrash – Sterne im Duell und Sador – Herrscher im Weltraum). So zeitlos ein Film auch sein mag, gegen den abnehmenden Ertrag seiner Kopien kann er sich nicht wehren. Andere visuelle Effekte finde ich unterhaltsamer: das Spiel mit einer Welt, in der man Wände kopfüber umkreisen kann wie in einem Hamsterrad – die Kamera nimmt ständig schiefe Perspektiven ein.

Vor allem aber finde ich 2001: Odyssee im Weltraum angenehm ruhig. Im Gegensatz zu manch anderem SciFi, der sich auf sein pseudowissenschaftliches Worldbuilding so viel einbildet, dass es den Zuschauenden ununterbrochen erklärt werden muss, wird in der zweiten Hälfte von Kubricks Film kaum noch gesprochen, die Bilder sprechen für sich, und ich darf mir die filmische Welt selbst nach und nach erschließen. Schließlich ist diese Ruhe auch der Spannung enorm zuträglich, wenn die Astronauten auf behelmte Missionen gehen. Gut zehn Minuten lang kann man Keir Dullea beim Atmen zuhören, während seine Figur Dave bei einem Außenbordeinsatz eine Antenne repariert. Kurz darauf wird diese Szene variiert: Nun schwebt Frank (Gary Lockwood) durchs Weltall und atmet schwer, doch ein SciFi-Evergreen kommt ins Spiel: der Interessenkonflikt mit einer künstlichen Intelligenz, hier dem Bordcomputer HAL, der den Astronauten in die Unendlichkeit abschießt. Dave folgt Frank auf eine Rettungsmission, und minutenlang sieht man nur, wie er aus dem Fenster seiner Raumkapsel guckt, auf der Suche nach seinem Kollegen, und der Blick zwischendurch nervös auf seine Armaturen schwenkt. Gerade aufgrund ihrer Langsamkeit konnten diese Sequenzen bei mir enorme Spannung erzeugen.

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Der Film endet mit Daves Sturz durch ein transzendentales Sternentor und einer weiteren berühmten Sequenz: ein psychedelischer Bildersturm, der die filmische Darstellung zurückwirft auf bloße Farben und Formen und damit an den Absoluten Film der 1920er Jahre erinnert, rast am Astronauten und an den Zuschauenden vorbei. Dass ein Film, der so sehr an der Grenze zwischen Unterhaltungs- und Experimentalkino arbeitet, so kanonisiert ist, finde ich bemerkens- und begrüßenswert. Hier schadet es auch nicht, die Kopien zu kennen – im Gegenteil. Denn Christopher Nolan muss sich beim Entwickeln von Interstellar wohl gesagt haben: „Dass bei einem Sprung durchs Weltall die Dimension der Zeit durcheinander gerät, das ist eine coole Idee. Aber eins fehlt noch: dass man das dem Publikum auch alles erklärt und ausbuchstabiert!“ Sorry für das Nolan-Bashing, ich komme vom Thema ab. Aber dieser Vergleich zeigt nun mal besonders gut, warum ich es so genossen habe, dass 2001 ein Science-Fiction-Film ist, in dem zur Abwechslung mal alle die Schnauze halten.

Interpretationen von 2001 sind natürlich mannigfaltig. Der mysteriöse sonnenanbetende Monolith, der schon den Menschenaffen begegnet ist und auf außerirdisches Leben hinweisen soll, liefert bis zum Ende des Films keine Antworten, sondern nur neue Fragen. Für mich hat der Film bei der Erstsichtung aber auch gerade das besonders überzeugend dargestellt: Überforderung, Überfragtheit und Angst angesichts des Unbekannten, Unendlichen und Unbegreiflichen. Dass der Weltraum noch lange nicht Ort interplanetarer Kriege ist, sondern bislang vor allem etwas, das unser Vorstellungsvermögen überschreitet – und deshalb auch verdammt gruselig ist. Ist 2001: Odyssee im Weltraum also eine Art avantgardistischer Horrorfilm? Das hatte ich nun wirklich nicht erwartet. Diese Lücke zu schließen, hat sich gelohnt.

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