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Ein Herz für Querköpfe: Die Filme von Wes Anderson

Ein Beitrag von Christian Neffe

Sicher, Wes Andersons charakteristischer visueller Stil ist auch bei seinem elften Spielfilm „Asteroid City“ das augenfälligste Element. Doch unter dieser Oberfläche aus Symmetrie und Pastell schlummerte schon immer ein Herz für querköpfige, nerdige Figuren.

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Wes Anderson Feature
Der Stil von Wes Anderson: Von „Bottle Rocket" über „Der fantastische Mr. Fox" bis „Asteroid City"

Die aktuelle Popularität von KI-Bild- und -Videoprogrammen nimmt zuweilen seltsame Züge an. Seit einiger Zeit etwa flutet Content das Netz, der zeigen soll, wie einige Filme angeblich aussehen würden, hätten sie andere Regisseur*innen gedreht. Einer der beliebtesten: Wes Anderson. Egal ob „Star Wars“, „Der Herr der Ringe“, „Jurassic Park“ oder „Avatar“ – auf YouTube finden sich unzählige KI-generierte Trailer, die einen Anderson-Film in diesen Franchises anteasern. Und je mehr man sich davon ansieht, desto mehr ist man froh, dass nicht nur KIs, sondern auch Menschen wie Anderson noch Filme machen.

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Auf den ersten Blick scheinen diese Clips einen Nerv beziehungsweise seinen Stil zu treffen: Pastellfarben, Symmetrie, harte Schnitte, Puppenhaus- und Spielzeugoptik, ein umfangreicher Star-Cast von Bill Murray über Owen Wilson und Jason Schwartzman bis Jeff Goldblum. Auf den zweiten Blick lassen sie jedoch etwas Entscheidendes vermissen: Andersons Passion für eigenwillige, exzentrische, querköpfige Figuren. Für Außenseiter und Ausgestoßene. Für erwachsene Kinder und kindische Erwachsene. Für Nerds. Auch wenn jene Fake-Trailer ein Resultat von Andersons formalistischer Weiterentwicklung sind, die inzwischen an einem Punkt angelangt ist, an dem sie zum augenfälligsten Merkmal seiner Filme geworden ist, so fing all das doch einmal deutlich bodenständiger an.

Und zwar mit Bottle Rocket (1996, deutscher Titel: Durchgeknallt). Andersons erster Spielfilm, basierend auf seinem gleichnamigen ersten Kurzfilm von 1992, der den Produzenten James L. Brooks (Big, Besser geht’s nicht) dazu brachte, die Finanzierung des Langfilms zu übernehmen, zeigt zwar schon seine Liebe für den Einsatz von eher unbekannter Popmusik. In seiner Bildsprache hat er aber kaum etwas vom späteren Wes Anderson, sondern ist mit seiner matten Farbgestaltung und klassischen Kamerapositionierung noch sehr konventionell inszeniert.

Kindische Erwachsene…

Inhaltlich jedoch ist die Anderson-DNS schon zu erkennen: Im Mittelpunkt stehen die drei Freunde Anthony (Luke Wilson), Dignan (Owen Wilson) und Bob (Robert Musgrave), die zunächst eine Buchhandlung, später ein Kühlhaus überfallen, allerdings nicht aus finanzieller Not, sondern vielmehr aus dem Verlangen heraus, sich im Angesicht des Erwachsenwerdens ihre jugendliche Energie und Freiheit zu bewahren. 

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Insbesondere Dignan steckt voller kleinkriminellem Tatendrang, stellt sich bei der Durchführung der Überfälle allerdings alles andere als clever an und verhält sich wie ein Kind, das seinen Lieblings-Gangster nachspielt, wenn er die Überfallenen anbrüllt, aber schnell kleinlaut wird, sobald die ihm Paroli bieten. Bei Streitigkeiten bockt er rum, und über ein Mini-Motorrad kann er sich ebenso freuen wie über einen strahlend gelben Jumpsuit. Dignan ist der Unruhepol, aber auch das emotionale Herzstück des Films, denn trotz seiner verantwortungslosen Art ist er derjenige, der sich am stärksten um den Erhalt der fast brüderlichen Freundschaft zwischen den dreien bemüht. Was womöglich auch biografisch geprägt ist: Der 1969 in Texas geborene Wes Anderson wuchst als mittlerer von drei Brüdern auf.

…und erwachsene Kinder

Dieser Figurenprototyp des kindischen Erwachsenen, der erst nach Konflikten und Fehlschlägen (wenn überhaupt) Verantwortung für seine Taten und für die Menschen um sich herum übernimmt, wird noch öfter in Andersons Werken auftauchen. Sein zweiter Film etablierte jedoch zunächst den anderen, gegenteiligen Prototyp: den des erwachsenen Kindes. Rushmore von 1998 handelt von Max Fischer (Jason Schwartzman), Schüler an der titelgebenden Hochschule, der sich in unzähligen außerschulischen Aktivitäten engagiert – derart vielen und abwegigen, dass seine Noten darunter leiden.

Max entspricht in vielerlei Hinsicht dem Klischee des „Nerds“: clever, seinen Altersgenossen weit voraus, mit großen Ambitionen ausgestattet, aber auch mit einer gewissen sozialen Inkompetenz. Mit seinen Mitschüler*innen kann er wenig anfangen, allen voran Margarte Yang (Sara Tanaka), deren romantisches Interesse er zunächst völlig ignoriert. Stattdessen hegt er selbst ein solches Interesse gegenüber der deutlich älteren Vorschullehrerin Rosemary Cross (Olivia Williams), der er sich wiederholt (und zuweilen auch unangemessen) aufdrängt. Als Konterpart stellt ihm Anderson den depressiven Geschäftsmann Herman Blume (Bill Murray) gegenüber, der sich zuweilen kindischer verhält als der jugendliche Max: Als die beiden darüber streiten, wer denn nun der bessere Partner für Rosemary sei, zerstört Herman Max‘ Fahrrad. Die Lehrerin kann aber letztlich mit beiden nichts anfangen: Herman besitzt zwar die Reife, die Max vermissen lässt, aber nicht dessen Elan, Ambitionen und Energie.

"Rushmore_Wes Anderson"
Ein kindischer Erwachsener und ein erwachsenes Kind: Bill Murray und Jason Schwartzman in „Rushmore“

In den damit abgesteckten Parametern – auf der einen Seite Erwachsene, die ihre Verantwortung für sich selbst und/oder andere verweigern; auf der anderen ambitionierte, disziplinierte Kinder, die umso mehr dieser Verantwortung übernehmen wollen – bewegen sich im Grunde alle weiteren Hauptfiguren in Wes Andersons folgendem Schaffen, während sich nun langsam auch sein charakteristischer visueller Stil herausbildet. Schon in Rushmore werden die Aufnahmen symmetrischer, farbenfroher und detaillierter, die Bildwelten künstlicher und verspielter. Und inhaltlich nimmt die Beziehung zwischen Eltern und ihren Kindern eine zunehmend größere Rolle ein. In seinem dritten Film spitzt sich dies weiter zu.

Familienprobleme

Die Royal Tenenbaums (2001) erzählt von Royal Tenenbaum (Gene Hackman), der seine Großfamilie vor vielen Jahren verlassen hat und nun zurückkehrt, weil er aus dem Hotel, in dem er 22 Jahre lang residierte, geworfen wird. Um von seinen Kindern aufgenommen zu werden, täuscht er eine Krebserkrankung vor und baut im Laufe der Zeit wieder eine Beziehung zu ihnen und vor allem zu seinen Enkeln auf. Die erbringen in der Schule Höchstleistungen und lernen erst durch ihren lebensfrohen Opa und dessen Laissez-faire-Lebensstil wieder, Freude an Dingen zu finden, die nicht nur ihrer Karriere und Bildung dienen.

Auch Die Tiefseetaucher (2004) handelt vom (Wieder-)Aufbau einer Vater-Kind-Beziehung. Der inzwischen erfolglose, von Presse und Konkurrenz verlachte Tiefseeforscher Steve Zissou (Bill Murray) begegnet erstmals seinem 30-jährigen Sohn Ned (Owen Wilson) und lädt ihn auf die nächste Expedition ein – anfangs nur in der Absicht, diese mit Neds Erbe zu finanzieren. Daraus erwächst mit der Zeit jedoch eine echte Beziehung, die ein umso tragischeres Ende nimmt. Und in Darjeeling Limited (2007) geht es wie schon in Bottle Rocket um ein männliches Dreiergespann, diesmal die Brüder Francis (Owen Wilson), Peter (Adrien Brody) und Jack (Jason Schwartzman), die nach dem Tod ihres Vaters nach ihrer Mutter suchen, die sich in einem Kloster in Indien aufhalten soll. Über diese Reise finden die drei nicht nur wieder zueinander, sondern können auch individuelle Probleme überwinden.

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Die dysfunktionale Familie bildet sich in dieser Zeit als Andersons Kernthema heraus – und quasi-familiär scheint auch die Art zu sein, wie er langjährige Weggefährt*innen um sich schart. Akteure wie Murray, Schwartzman oder Brody werden zu Stammschauspielern und tauchen verlässlich zumindest in winzigen Nebenrollen auf. Und auch beim Schreiben der Drehbücher sind es drei Co-Autoren, die Anderson wiederholt unterstützen. Zunächst ist es Owen Wilson, mit dem sich Anderson schon während des Studium anfreundete, bei Die Tiefseetaucher stößt dann Noah Baumbach und bei Darjeeling Limited schließlich Roman Coppola dazu.

Unmittelbar verknüpft mit dem Thema Familie ist außerdem die andere große Gemeinsamkeit von Andersons Hauptfiguren: ihr Status als Außenseiter, ihre anfängliche Isolation vom engeren oder weiteren sozialen Umfeld und ihr langsamer Weg zurück in die Gemeinschaft, verbunden mit der Wiederentdeckung von Empathie und Verantwortung. In Darjeeling Limited findet diese Entwicklung vor allem bei Peter statt, der vor seiner schwangeren Frau und damit seiner Verantwortung als Vater „flieht“ und sie erst wieder akzeptiert, nachdem er in Indien erlebt hat, wie ein Dorfbewohner den Tod seines Kindes betrauert.

Außenseiter und Ausgestoßene

Um Außenseiter und Abweichler geht es auch in den darauffolgenden Filmen. Manchmal ist es selbst gewähltes Außenseitertum, wie in Andersons erstem Stop-Motion-Film Der fantastische Mr. Fox (2009), basierend auf einer Geschichte von Roald Dahl. Der dreht sich um einen Fuchs, der in einen Kleinkrieg mit den (menschlichen) Bewohnern eines Ortes gerät – und der diesen Konflikt auch ganz bewusst sucht, weil er nun, als Familienvater, die guten alten, abenteuerlichen Tage vermisst. Oder auch in Moonrise Kingdom (2012), in dem der gewiefte Pfadfinder Sam (Jared Gilman) zusammen mit seiner großen Liebe Suzy (Kara Hayward) die Flucht ergreift, weil das Jugendamt über sein weiteres Leben entscheiden soll.

In seinem zweiten Stop-Motion-Film Isle of Dogs (2018) wird der Protagonist hingegen zum Ausgestoßenem gemacht: Hund Atari ist nur einer unter tausenden in Japan, die auf eine Müllinsel verbannt werden, und nun sucht er mit anderen den Weg zurück nach Hause. Auch in The Grand Budapest Hotel (2014) sehen sich Monsieur Gustave (Ralph Fiennes) und sein Assistent Zero (Rony Revolori) – ebenfalls eines dieser ambitionierten Kinder in Andersons Œuvre – plötzlich von ihrem gewohnten Umfeld isoliert, als Gustave des Mordes beschuldigt und fortan von der Polizei verfolgt wird.

Liebevolle Nerds

„I don’t think any of us are normal people“, sagte Anderson 2016 in einem Interview mit The Guardian, und darin liegt der rote Faden zwischen seinen Filmen, die sonst in ihren Sujets, Plots und Farbpaletten so divers sind. Anderson erzählt weder von gewöhnlichen Alltagsdingen noch bedient er die klassische Heldenreise; seine Figuren sind Querköpfe, weichen von der Norm ab, die ihr Umfeld angesichts ihres Alters von ihnen erwartet. Und sie pflegen Leidenschaften, denen sie mit unbedingter Passion nachgehen: sei es der perfektionistische Nobelhotelbesitzer Monsieur Gustave, der so clevere Pfadfinder Sam, die jüngste Generation der Tenenbaums, der trotz Misserfolgen weiterhin ambitionierte Tiefseeforscher Steve Zissou oder Max Fischer, der für das Schultheater den Vietnamkrieg und Serpico nachinszeniert. Sie alle sind Nerds.

Im Gegensatz jedoch zu anderen Produktionen (man denke etwa an The Big Bang Theory) nutzt Anderson dieses Nerdtum nicht als Gag-Vehikel, gibt seine Figuren nicht der Lächerlichkeit preis, sondern schöpft Profil und Sympathie aus ihren seltsamen Eigentümlichkeiten und Wesenszügen. Vor allem aber: Obwohl sie einen Wandel durchmachen und persönlich wachsen, müssen sie ihre Eigenheit niemals gänzlich ablegen. Im Gegenteil finden viele von ihnen am Ende sogar wahre Erfüllung darin: Steve Zissou entdeckt endlich den Hai, den er so lange suchte, Max Fischers neues Theaterstück begeistert die gesamte Stadt, Pfadfinder Sam findet die neue Familie, nach der er so eifrig suchte und sogar Dignan scheint mit seiner Gefängnisstrafe ganz glücklich zu sein. Was sich verändert hat, sind ihre Beziehungen zu Freunden und Familie. Die sind im Laufe der Handlung gesundet.

Andersons artifizieller Stil, diese auf den ersten Blick erkennbare und von KIs so leicht reproduzierbare Ästhetik ist im Angesicht dessen weit mehr als eine bloße Zurschaustellung der eigenen Kunstfähigkeit, ein reines Spiel mit Farben und Bildkomposition oder gar formalistischer Selbstzweck: So wie der Regisseur und Autor die Eigenwilligkeit seiner Figuren zelebriert, so spiegelt sich dies in der Form wieder. Seine Figuren leben in ihrer eigenen Welt, die unserer zwar ähnelt, in ihrer Positivität und ihrem sozialen Optimismus aber doch ein ganzes Stück utopischer erscheint. Es sind Märchendarbietungen in kleinen Puppenhäusern, die uns eine Welt zeigen, in der Konflikte überwunden werden können, Abweichler eine Heimat finden und Magisches möglich ist. Und überhaupt: Wenn schon die Figuren nicht „normal“ sind, warum sollten es dann die Bildwelten um sie herum sein?

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