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Ein langer Weg – Junge trans Figuren im Film

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

In „20.000 Arten von Bienen“ steht ein trans Kind im Zentrum. Das Werk lässt sich ganz auf dessen Perspektive ein. Wir blicken auf Beispiele aus der Filmgeschichte, die sich mit dem Thema befassen.

Meinungen
Trans im Film
Girl / Lola und das Meer / 20.000 Arten von Bienen

In Coming-of-Age-Filmen geht es, wie in Entwicklungs- und Bildungsromanen, um den charakterlichen Reifungsprozess der Hauptfigur(en). Ein wesentlicher Bestandteil dieser inneren Reise ist die Suche nach der eigenen Identität. Am Ende der Geschichte, wenn wir als Publikum beziehungsweise als Leser:innen das Geschehen wieder verlassen, muss nicht zwangsläufig ein unumstößliches Ergebnis dieser Suche stehen – doch zumeist wird eine Richtung eingeschlagen. So ist es auch in „20.000 Arten von Bienen“, dem Langfilmdebüt der baskischen Drehbuchautorin und Regisseurin Estibaliz Urresola Solaguren.

Wenn wir die achtjährige Hauptfigur (verkörpert von Sofía Otero, die auf der diesjährigen Berlinale mit dem Silbernen Bären für die beste schauspielerische Leistung in einer Hauptrolle ausgezeichnet wurde) kennenlernen, ist diese noch unsicher, bei welchem Namen sie genannt werden will. Da ist ihr männlich konnotierter Geburtsname, mit dem sie indes seit längerer Zeit hadert. Und da gibt es ihren weiblich klingenden Spitznamen, der aber durch die despektierliche Verwendung in ihrem Umfeld etwas Spöttisches an sich hat. Im Laufe eines Aufenthalts im Heimatdorf der Mutter, wo die Taufe eines neuen Familienmitglieds gefeiert wird, vollzieht sich die persönliche Namensfindung: Aus einem Menschen mit mehreren Namen, die sich jeweils nicht richtig anfühlen, wird Lucia – eine Persönlichkeit, die ihrem Selbst, ihrer Identität nach 125 Filmminuten ein kleines Stück näher gekommen ist.

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Wessen Geschichte wird erzählt?

20.000 Arten von Bienen schildert nicht ausschließlich Lucias Sicht. Wir erhalten etwa auch Einblick in die Positionen von Lucias Mutter Ane, von Lucias Großmutter Lita und von Lucias Großtante Lourdes. Während sich Ane offen-unbekümmert gegenüber Lucias Identitätssuche zeigt, dabei allerdings zugleich eine ernsthafte Auseinandersetzung scheut, offenbart sich Lita in ihrer Ausdrucksweise und in ihren Forderungen weitgehend als ignorant. Lourdes beweist derweil die größte Empathie, indem sie Lucia aufmerksam zuhört und weibliche Pronomen verwendet, um über ihr Enkelkind zu sprechen. In erster Linie ist dies wiederum kein Film über die Erwachsenen, sondern über Lucia. Wie fühlt sich die Figur zum Beispiel im Schwimmbad oder im Shoppingcenter – also an öffentlichen Orten, die mit ihren Toiletten, Umkleidekabinen oder Modeabteilungen nach wie vor streng dichotom gedacht sind und die Menschen danach einordnen, wie diese von der Mehrheitsbevölkerung gelesen werden?

Oskars Kleid von Hüseyin Tabak. © Warner Bros.

Der deutschen Tragikomödie Oskars Kleid (2022) von Hüseyin Tabak gelingt es deutlich weniger, dem trans Kind den nötigen Raum innerhalb der Handlung zu geben. Der gute Wille, der dem Drehbuch des Hauptdarstellers und Co-Produzenten Florian David Fitz zugrunde gelegen haben mag, kann nicht darüber hinwegtäuschen, dass der Film seinem Sujet durch die Wahl der Perspektive nicht gerecht wird. Denn Dreh- und Angelpunkt des Plots ist hier der Polizist Ben, der erfährt, dass eines seiner beiden Kinder trans ist und fortan Lili genannt werden möchte. Der Protagonist hat etliche Vorurteile und äußert sich wiederholt homo- und transphob, sexistisch und rassistisch – was nicht selten als Gag eingesetzt wird. Ziel des Ganzen ist es offenkundig, die Entwicklung des Vaters hin zu einem verständnisvollen Menschen zu schildern. Auf dem Weg dorthin baut das Werk jedoch auf zu viel Klamauk und auf ärgerlichen Klischees auf.

Aufklärungsarbeit

Statt sich den Gefühlen und dem Alltag von Lili zu widmen (geschweige denn Lilis Wunsch, bei diesem Namen genannt zu werden, im Titel des Films zu berücksichtigen), scheint es vor allem darum zu gehen, jene Leute im Publikum abzuholen, die wie Ben von dem Thema und von einem angebrachten Umgang damit noch ziemlich überfordert sind. In dieser Form dient das trans Kind dazu, Toleranz zu schaffen; es hat eine Funktion, eine Aufgabe zu erfüllen, um Teil des Mainstream-Kinos sein zu dürfen. So sollte es aber nicht sein. In den seltenen Passagen, in denen sich die Familiendramödie tatsächlich auf Lilis Empfinden konzentriert, etwa in einem Dialog mit einem Rabbi, wird das vorhandene Potenzial von Oskars Kleid deutlich – nicht zuletzt dank der starken Besetzung der Kinderrolle.

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Dass ein Film aufschlussreich sein kann, ohne dabei das trans Kind auf einen didaktischen Funktionspart zu reduzieren, demonstriert das dokumentarische Porträt Kleines Mädchen (2020) von Sébastien Lifshitz über die siebenjährige Sasha, der bei ihrer Geburt das männliche Geschlecht zugewiesen wurde. Der in Paris geborene Filmemacher, der durch Werke wie Sommer wie Winter (2000), Wild Side (2004) und Bambi (2013) zu einer Größe des queeren Kinos wurde, fängt seine junge Protagonistin im Kreise der liebevoll unterstützenden Eltern ein; er zeigt indes auch, wie sich Sasha in ihrem sozialen Umfeld, beispielsweise in der Schule, immer wieder behaupten muss, um als die Person angesehen zu werden, die sie ist. In einem Interview erläutert Lifshitz: „Wann immer es möglich war, nimmt der Film Sashas Perspektive ein. Die Kamera begleitet sie, so nah wie möglich, auf Augenhöhe – und das erlaubt es uns, eine empathische Bindung zu ihr aufzubauen und zu verstehen, was sie durchmacht.“

In der Pubertät

Ebenfalls aus Frankreich kommt das Adoleszenzdrama Tomboy (2011), geschrieben und inszeniert von Céline Sciamma. Auch dieser Film trifft die Entscheidung, das Kind und dessen Erlebnisse in den Mittelpunkt zu stellen. Die zehnjährige Hauptfigur, gespielt von Zoé Heran, fühlt sich als Junge. Als die Familie umzieht, nutzt das Kind die Gelegenheit, um sich gegenüber den Gleichaltrigen in der Nachbarschaft als Michael (statt unter dem weiblich konnotierten Geburtsnamen Laure) vorzustellen. Doch nach einer Prügelei erfährt die Mutter davon – und reagiert völlig verständnislos.

Tomboy von Céline Sciamma. © Alamode

Sciamma, die mit Water Lilies (2007) und Mädchenbande (2014) weitere spannende Coming-of-Age-Beiträge geschaffen hat, illustriert, dass ein heranwachsender Mensch wie ihre Hauptfigur auf Rückhalt, insbesondere in der eigenen Familie, angewiesen ist, um sich frei entfalten zu können. Da diese Stütze hier (anders als für Sasha in Kleines Mädchen) fehlt, muss Michael vorerst eine Rolle spielen: „Ich heiße Laure“, ist am Ende zu hören, nachdem es zu mütterlichen Bestrafungen und zu Mobbing durch die Nachbarskinder gekommen war. Wir haben im Laufe der Handlung allerdings eine wahrhaftige Figur kennengelernt, die ihren Weg gewiss eines Tages weitergehen wird – hoffentlich in einem Schutzraum, den wir ihr in ihrer (fiktiven) Zukunft wünschen.

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Bereits ein paar Schritte weiter sind die beiden Teens, die in Lukas Dhonts belgisch-niederländischem Drama Girl (2018) und in Gaby Dellals US-Indie-Movie Alle Farben des Lebens (2015) jeweils im Zentrum stehen. Die 15-jährige Lara (Victor Polster) träumt in Girl davon, eine professionelle Ballerina zu werden. Mit der Unterstützung ihres Vaters unterzieht sie sich einer Hormonersatzbehandlung, um dem Ziel der Geschlechtsangleichung näherzukommen. Dhont thematisiert wie zuvor schon Sciamma in Tomboy die Feindseligkeit im schulischen Umfeld; sein Hauptaugenmerk richtet er aber auf Laras introvertierte Art, mit inneren und äußeren Konflikten umzugehen. Der über weite Strecken sensibel erzählte und hervorragend gespielte Film wurde zu Recht von der Kritik gefeiert; der dramatische Höhepunkt kurz vor Schluss führt hingegen auch dazu, dass Lara als tragische Heldin gezeichnet wird – womit das Werk letztlich das alte Klischee bedient, dass ein nicht-heteronormativer Mensch zwangsläufig eine Leidensfigur sein müsse.

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Der 16-jährige Ray (Elle Fanning) aus Alle Farben des Lebens wohnt wiederum mit seiner alleinerziehenden Mutter sowie seiner Großmutter und deren Lebenspartnerin in Manhattan. Auch er will mit einer Hormonersatzbehandlung beginnen und eine neue Schule besuchen, auf der ihn die Leute nicht unter seinem weiblich konnotierten Geburtsnamen kennen. Wir erleben mit, wie Ray mit dem Skateboard in den Straßen von New York unterwegs ist, wie er Muskeln aufzubauen versucht und alles in einem Videotagebuch festhält. Ebenso sehen wir die Hürden und Verletzungen im Alltag – dass Ray etwa die geschlechtergetrennte Schultoilette meidet oder immer wieder darauf hinweisen muss, dass seine Familie nicht mit weiblichen Pronomen über ihn sprechen soll. Besonders schmerzhaft ist ein Moment, in dem Ray glaubt, dass eine Mitschülerin, für die er schwärmt, Interesse an ihm hat – bis er erkennen muss, dass diese zwar ein bewundernswert-mutiges Mädchen, aber keinen Jungen und potenziellen Freund in ihm sieht.

Besetzungsfragen

Ebenso wie etwa bei Boys Don’t Cry (1999) mit Hilary Swank als trans Mann oder bei The Danish Girl (2015) mit Eddie Redmayne als trans Frau löste das Casting der Hauptfigur bei Alle Farben des Lebens zahlreiche Diskussionen aus. Die vielfach gestellte Frage, ob Filme, die eine trans Rolle mit einer cis Person besetzen, nicht (ob gewollt oder ungewollt) eine künstlerische Aussage darüber treffen, wie sie einen trans Menschen wahrnehmen, ist durchaus berechtigt. Gleichwohl muss der Einzelfall betrachtet werden – so erforderte etwa die Verkörperung der Titelfigur in Girl neben Schauspieltalent auch entsprechend weit fortgeschrittene Tanzfähigkeiten – und Victor Polster erwies sich als Schüler der Royal Ballet School in Antwerpen als beste Wahl. Nicht selten mag das Casting einer cis Person hingegen aus rein ökonomischem Kalkül geschehen, da prominente Namen und Gesichter als Hauptdarsteller:innen angestrebt werden und sich bisher nur vergleichsweise wenige trans Schauspieler:innen diesen Status erarbeiten konnten – was indes eben auch daran liegt, dass ihnen die Chancen hierfür häufig verwehrt werden.

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Dass sich ein langsamer positiver Wandel vollzieht, zeigt jedoch zum Beispiel das belgisch-französische Roadmovie Lola und das Meer (2019) von Laurent Micheli, in dem sich die Leinwanddebütantin Mya Bollaers als 18-jährige, pinkhaarige trans Jugendliche auf eine Reise begibt. Die Schauspielerin wurde als erste offene trans Person mit dem belgischen Filmpreis Magritte ausgezeichnet und zudem für einen César als Nachwuchsstar nominiert.

 

 

 

Meinungen

Lea · 28.08.2023

Hätte mir in diesem Artikel mehr Filmbeispiele aus der weiter zurückliegenden Filmgeschichte gewünscht. Bin überrascht dass weder Ma vie en rose (1997) noch Something must break (2014) mit der wahnsinnig tollen Saga Becker genannt werden.