zurück zur Übersicht
Specials

Aus Liebe zum Film: Wie das soziale Netzwerk Letterboxd Zielgruppen vereint

Ein Beitrag von Sophia Derda

Gerade den vielen jungen Nutzer*innen der Plattform kann Letterboxd neue Welten eröffnen – auch wenn das schon einmal zu einer Rivalität zwischen Bong Joon-ho und Taylor Swift geführt hat. Denn vor allem führt Letterboxd dazu, dass Film als Medium gemeinsam gefeiert wird.

Meinungen
Taylor Swift / Parasite
© Taylor Swift / CJ Films

Wer seine Hingabe zur Popkultur festhalten und nach außen tragen will, muss sich die Popkultur zu eigen machen – das ist schon seit Jahrzehnten so. Nur die Art und Weise hat sich verändert: Selbst zusammengestellte Kassetten mit den Lieblingssongs wurden zu Spotify-Listen mit schönen Covern. Zimmerwände voller Konzertkarten und Poster wurden zu Instagram-Story-Highlights mit herangezoomten Konzertmitschnitten. Regale voller VHS-Kassetten und DVDs wurden zu Letterboxd-Diaries mit über 250 Einträgen im Jahr und Listen, die für jede Situation den passenden Film parat haben. Letterboxd hat älteren Internetplattformen wie Rotten Tomatoes und IMDb längst den Rang abgelaufen. Woher kommt der Hype um das soziale Netzwerk für Filmfans?

Letterboxd wurde vor etwas mehr als zehn Jahren von den Tech-Unternehmern Matthew Buchanan und Karl von Randow aus Auckland gegründet – zunächst nur als Hobbyprojekt. Inzwischen hat die Plattform die Marke von 6,5 Millionen Mitgliedern überschritten. 40-50 % davon leben in Nordamerika, gefolgt von Großbritannien, Europa und neuen Märkten wie Brasilien, Indien, Australien, Indonesien und den Philippinen. Sein explosionsartiges Wachstum hat Letterboxd jungen Menschen zu verdanken: Auf der App, über die nach Angaben des Unternehmens 75 Prozent der Nutzer*innen auf Letterboxd zugreifen, sind die 18- bis 24-Jährigen die größte Altersgruppe. 

Von Margot Robbie bis Todd Field

Letterboxd versteht sich als Online-Social-Networking-Dienst für Filmliebhaber*innen aus der ganzen Welt. Cinephile können dort gesehene Filme kommentieren, auf einer Fünf-Sterne-Skala bewerten, ein Tagebuch anlegen und Listen erstellen. Dabei ist Letterboxd mittlerweile derart beliebt, dass sich dort sogar mehr Filmbewertungen finden lassen als auf IMDb. Und nicht nur Filmfans finden Gefallen an dem Netzwerk, es tummeln sich auch einige Persönlichkeiten aus der Branche selbst unter den Nutzer*innen. So erzählte jüngst während der Promophase zu Damien Chazelles Babylon (2022) die Hauptdarstellerin Margot Robbie ihrem Kollegen Diego Calva von der App:

„Es ist eine großartige Möglichkeit, die Filme zu bewerten, die du dir ansiehst. Einige Leute schreiben Kritiken und Ähnliches. Man kann nachsehen, was andere Filmemacher für Filme lieben und was sie gerade gesehen haben. Es ist einfach schön, zu dokumentieren, was man wann gesehen hat, und man kann sich Listen erstellen.“

Ein Nutzer fand im Mai 2022 den privaten Account von Robbie und teilte eine Liste von Filmen, die sie für die Vorbereitung auf Greta Gerwigs Barbie (2023) sehen wollte. Der Account wurde inzwischen gelöscht, aber ein Screenshot ist geblieben, auf dem fünf Filme in einem Ordner mit dem Titel „Barbie“ aufgelistet sind.

Margot Robbies Letterboxd-Liste

Im Vergleich zu anderen sozialen Netzwerken wie Instagram oder Twitter ist Letterboxd sehr viel dezidierter. Es gibt das eigene Profil, das mit einem Bio-Text und den vier Lieblingsfilmen gefüllt werden kann, und die Möglichkeit, sich gegenseitig zu folgen. Das war’s aber auch, private Chats können nicht geführt werden. Die Kommunikation findet ausschließlich in den Kommentaren unter den Filmen selbst statt. Sobald man einen Film gesehen hat, geht der Blick auf die Meinung anderer. Wie schon auf dem Schulhof stehen hier die lautesten Personen mit den derbsten Sprüchen im Fokus. Viele Likes generiert man mit der Sexualisierung des Casts oder „originellen“ Kommentaren zur Handlung.

Derbe Kommentare mit vielen Likes

Wenn man tiefer geht und die Kommentare mit den meisten Likes hinter sich lässt, kann man aber auf wahre Schätze treffen. Die Liebe zum Film wird dort ganz besonders deutlich. Einige Nutzer*innen schreiben voller Hingabe über einzelne Filmszenen, analysieren die Figuren und eröffnen neue Blickwinkel in der Rezeption. Regisseur Todd Field sprach in einem Interview über genau dieses Phänomen:

„Ich lese Letterboxd mit Begeisterung. Einige der Interpretationen sind wirklich sehr faszinierend. Ich glaube, man lernt eine Menge über den Stil, den man entwickelt, von anderen Leuten. Ich habe eine Menge über diesen Film (Tár, 2022) von anderen Leuten gelernt. Das ist das Beste daran.“

Auf Letterboxd können Filmfans nach der Rezeption dauerhafte Verknüpfungen herstellen. Wie in einem Tagebuch lassen sich die gesehenen Filme ordnen und gehen nicht mehr verloren. Beispielsweise lässt sich damit ein Filmjahr Revue passieren lassen und die Jahresbestenliste erstellt sich fast von allein.

Der Einfluss von außen

Das große Wachstum der Plattform hat auch dazu geführt, dass nicht nur cinephile Menschen den Weg dorthin finden. Die Verschiebung hin zu jüngeren Nutzer*innen bedeutet, dass sich Letterboxd in den letzten Jahren über die Nische hinaus ausgedehnt hat. An Hand popkultureller Phänomene wie All Too Well: The Short Film (2021), eines Kurzfilms von Taylor Swift zu ihrem Song All Too Well, kann man diesen Trend erklären. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung war es der sehr engagierten Fangemeinde von Swift ein großes Anliegen, den Kurzfilm so populär wie möglich zu machen. Also meldeten sich hunderte von ihnen erstmals auf Letterboxd an und bewerteten den Film mit fünf Sternen. Nach kürzester Zeit konnte der Kurzfilm dadurch Parasite (2019) und den Live-Performance-Mitschnitt Radiohead: In Rainbows — From the Basement (2008) von den ersten Plätzen stoßen. Im Laufe der Zeit hat sich das aber wieder reguliert und die Bewertung ist gefallen. Lassen wir uns überraschen, was passieren wird, wenn Swift ihren vor kurzer Zeit angekündigten ersten Langspielfilm veröffentlicht…

Externen Inhalt ansehen?

An dieser Stelle möchten wir Ihnen ein externes Video von YouTube präsentieren. Dafür benötigen wir Ihre Zustimmung in die damit verbundene Datenverarbeitung. Details in unseren Angaben zum Datenschutz.

Zustimmen und ansehen

Der Streaming-Gigant Netflix spielt in dieser Debatte natürlich auch eine Rolle. Der große Einfluss dort veröffentlichter Filme und Serien führt auch zu einer größeren Auseinandersetzung mit dem Medium an sich. Die Anmeldung bei Letterboxd ist dann ein weiterführender Schritt, um sich mit seinem eigenen Geschmack auseinanderzusetzen. Ob die Netflix-Konsument*innen, nachdem sie die dritte True-Crime Serie und alle Sequels zu Knives Out (2019) oder Tyler Rake: Extraction (2020) geloggt haben, auf Letterboxd wirklich auch nach alternativen Filminhalten Ausschau halten, ist allerdings fragwürdig.

Das Licht am Ende des Tunnels

Das führt zu einem Punkt, der in der Streaming-besessenen Gegenwart immer wieder in den Vordergrund tritt: Das Überangebot an Filmen und Serien kann überfordernd sein. Content über Content wird produziert und uns allen vor die Füße geschmissen. Was davon aber wirklich sehenswert ist, bleibt die große Frage. Letterboxd kann in solchen Situationen der kleine Helfer von nebenan sein. Kuratierte Listen, die von der hauseigenen Redaktion oder anderen Nutzer*innen vorgeschlagen werden, können Horizonte erweitern und unbekannte Regisseur*innen sichtbar werden lassen. So spuckt die riesige Filmdatenbank Schätze aus, auf die man selbst nicht gekommen wäre – zum Beispiel die hauseigene Liste Low Rated, Most Loved Top 50. Sicher, es gibt Filme, die wir aus dem einen oder anderen guten Grund nicht mögen, aber wenn wir Ausdrücke wie „so schlecht, dass er gut ist“ oder „Guilty Pleasure“ verwenden, wollen wir damit eigentlich etwas ganz Einfaches sagen: Dieser Film macht mich glücklich, unabhängig von seiner Qualität oder der Meinung anderer. Letterboxd hat diese Tatsache mit dieser kürzlich veröffentlichten Liste von Filmen mit niedrigen Bewertungen und über 1000 Likes deutlich gemacht. Mit anderen Worten: Es handelt sich um Filme, denen die Nutzer*innen nur einen oder zwei von fünf Sternen gegeben, aber trotzdem auf das Herz-Symbol gedrückt haben.

Der wohl berühmteste „so schlecht, dass er gut ist“-Film The Room (2003) ist natürlich vertreten, aber auch die Twilight-Filme und zahlreiche Star-Wars-Filme, darunter das „kokaingeschwängerte“ Holiday-Special. Ganz besonders sind aus dieser Liste aber Samurai Cop (1991) und Plan 9 aus dem Weltall (1959) hervorzuheben. Die beiden US-amerikanischen Billigproduktionen werden als wunderbare Werke der Außenseiterkunst genossen, aber größere Bekanntheit blieb damals aus. Gerade den vielen jungen Nutzer*innen der Plattform können solche Vorschläge eine neue Welt eröffnen. Dafür nimmt man in Kauf, dass Taylor Swift vielleicht noch einmal Bong Joon-ho verdrängt. Denn vor allem führt Letterboxd dazu, dass Film als Medium gemeinsam gefeiert wird. Und das ist viel wert.

Meinungen