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Cédric Kahn erzählt in „La prière“ vom dornigen Weg des Drogenentzugs – und droht dabei selbst oft in die dramaturgischen Dornen seiner Geschichte zu greifen.

La prière (2018)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Durch Hölle und Himmel

Am Anfang steht die Apathie: Ein drogensüchtiger Teenager mit körperlichen sowie seelischen Verletzungen landet nach einer Überdosis in einem katholischen Heim in den französischen Alpen, wo er eine Entziehungskur machen soll.

„Wir haben strenge Regeln“, warnt der Heimleiter Marco (Alex Brendemühl) den adoleszenten Thomas (Anthony Bajon), der sein Schicksal zunächst stumm zu ertragen scheint. Es darf kein Kontakt nach draußen stattfinden; Thomas muss – wie in einer Haftanstalt – alle persönlichen Gegenstände abgeben und sich den Schädel rasieren. Was ihn erwartet, ist ein kalter Entzug – nur das regelmäßige, kollektive Gebet sowie harte, körperliche Betätigung sollen den jungen Mann von der Heroinabhängigkeit kurieren. Überdies soll ihm die Freundschaft, die Brüderlichkeit der Gruppe eine Stütze sein: Ihm wird mit dem etwas älteren, einst ebenfalls süchtigen Pierre (Damien Chapelle) ein „Schutzengel“ zugeteilt, der fortan immer – wirklich immer – an seiner Seite sein soll, damit Thomas nie allein ist.

Auf die Teilnahmslosigkeit folgt der Schmerz: Die Arbeit im Freien fällt Thomas sichtlich schwer; des Nachts leidet der Jugendliche unter Krämpfen und Übelkeit. Alsbald wandelt sich der Schmerz in Wut: Thomas begehrt auf, er nimmt Reißaus und kommt bei einem Ehepaar (Magne-Håvard Brekke und Maïté Maillé) aus dem nahe gelegenen Dorf unter, bis dessen Tochter Sybille (Louise Grinberg) – eine Archäologiestudentin, die diesen Ort möglichst schnell hinter sich lassen will – ihn zur Rückkehr ins Heim bewegen kann. Tatsächlich gelingt es Thomas schließlich, sich einzufügen – und schon bald ist er es, der anderen Gruppenmitgliedern zu helfen versucht.

In seinen stärksten Momenten erinnert Cédric Kahns La prière an die Coming-of-Age-Filme von André Téchiné, etwa an Wilde Herzen (1994) oder Mit siebzehn (2016), sowie an den Auftakt des Antoine-Doinel-Zyklus Sie küssten und sie schlugen ihn (1959) von François Truffaut: Die Verzweiflung und der unterdrückte Zorn eines Heranwachsenden treffen auf ein Regelwerk, das große (Selbst-)Beherrschung fordert. Eindrücklich zeigt sich in diesen Passagen, wie beengend es sein kann, nur noch Teil eines betenden, singenden und schuftenden Kollektivs zu sein und keine fünf Minuten für sich allein zu haben. Dass sich dies so gut vermittelt, ist auch dem Talent des Hauptdarstellers Anthony Bajon zu verdanken, dessen intensive Rolleninterpretation den juvenilen Furor absolut begreiflich macht.

Statt sich den äußeren sowie inneren Herausforderungen, mit denen Thomas im Heim konfrontiert wird, eingehend zu widmen, schreitet das Drehbuch, welches Kahn zusammen mit Fanny Burdino und Samuel Doux nach einer Idee von Aude Walker verfasste, jedoch recht schnell zu dem Punkt, an dem Thomas einem mit den Umständen hadernden Neuankömmling bereits zu versichern glaubt: „Das geht vorbei!“ Als plötzlich die Sonne scheint, die Bäume im schönsten Grün erstrahlen und das Lachen Einzug in die Gemeinschaft hält, befürchtet man als Zuschauer_in schon, dass der Film sich nun in Feelgood-Gefilde begibt und damit einen unverzeihlichen Verrat an seinem Protagonisten sowie an dessen Problemen begeht – bis eine überaus ambivalente Szene mit Hanna Schygulla als Schwester und Heimgründerin Myriam abermals Spannung in das Geschehen bringt.

Es ist nicht das letzte Mal, dass La prière eine höchst zweifelhafte Richtung einschlägt, um dann doch wieder eine Wendung zu nehmen. Wenn sich Thomas bei einer Wanderung in den nebelverhangenen Bergen verirrt und dabei der steinige Weg, den die Figur im Laufe der Geschichte in übertragener Bedeutung zu gehen hat, zu einem tatsächlichen steinigen Berghang wird, den Thomas prompt hinunterstürzt, will man den Film – spätestens in dem Augenblick, in welchem sich noch ein von Gott gesandtes Wunder zur Errettung andeutet – eigentlich schon aufgeben. Aber auch aus dieser Irre findet das Werk wieder hinaus.

Skript und Regie operieren durchaus clever, indem sie immer wieder unsere Erwartungen unterlaufen und uns unsere möglicherweise festgefahrenen Meinungen aufzeigen. Weder will der Film den Glauben der Figuren als Scheinheiligkeit oder Lüge demaskieren, noch will er die christlichen Rituale des Heims als perfekte Methode eines Drogenentzugs propagieren; es geht nicht darum, Leute vorzuführen und zu verurteilen, aber auch nicht darum, zu missionieren. Wenn Kahn und sein Kameramann Yves Cape die singenden jungen Männer einfangen, ist das durchaus anrührend; andere Momente wirken indes befremdlich. Wenn Thomas sich schließlich die Gesten sowie das Vokabular seiner Ersatzfamilie angeeignet hat und ebenfalls in salbungsvollen Worten über Freundschaft und Dankbarkeit spricht, möchte man beinah ähnlich abwehrend reagieren wie der noch unbekehrte Thomas zu Beginn der Handlung. Wurde das Heroin nicht einfach durch eine andere Droge – durch die Religion – ersetzt? La prière beantwortet diese Frage nicht; wir müssen selbst eine Antwort finden.

Bedauerlich bleibt dennoch, dass der Film sein Potenzial als Schilderung des Erwachsenwerdens nicht ausschöpft. Sie denke dauernd an Drogen, sie seien immer in ihrem Kopf, gesteht eine ehemalige Angehörige der Frauengruppe, die getrennt von der männlichen Gruppe ebenfalls in den Bergen untergebracht ist. Von diesem Kampf, den auch Thomas zu kämpfen hat, sehen und spüren wir nach dem sensibel umgesetzten Einstieg in die Erzählung im zweiten und dritten Akt kaum noch etwas. Die Konflikte von Thomas bleiben letztlich unterbelichtet; zudem vermag der Liebes-Subplot zwischen Thomas und Sybille in seinen abgehakten Standardsituationen nicht recht zu überzeugen. La prière ist in seinen vielen Abbiegungen gewiss nicht ohne Reiz; zuweilen lässt sich bei einer konzentrierteren (filmischen) Reise aber wohl doch einfach mehr entdecken.

La prière (2018)

Thomas sucht eine Kommune in den Bergen auf, um endlich von seiner Drogensucht loszukommen. Die Gemeinschaft wird von ehemaligen Süchtigen geleitet, die sich selbst mittels eines Programms heilen, das aus Arbeit und Gebeten besteht. Durch sie wird Thomas den Wert von Freundschaft und Liebe, Disziplin und Glauben kennenlernen …

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