Er Sie ich (2017)

Eine Filmkritik von Simon Hauck

Von einem Paar, das nie eines war

Am Anfang waren Glückskekse. Welchen Spruch werden sie beinhalten? Den üblichen Esoterik-Nonsens – oder doch eine kleine, sinnvolle Gedankenstütze für den eigenen Lebensweg? Regisseurin Carlotta Kittel gibt zu Beginn ihres sehr persönlichen Dokumentarfilmexperiments Er Sie Ich jedem Elternteil einen solchen Glückskeks in die Hand. Lange schon – im Grunde viel zu lange aus ihrer Sicht – sprechen Angela und Christian nicht mehr viele Worte miteinander, obwohl doch (oder gerade weil?) Carlotta ihre gemeinsame Tochter ist.

Aus diesem Grund stellte die diplomierte Editorin – die zuletzt beispielsweise die beiden Festivalerfolgsfilme Die Mitte der Welt (Filmfest München 2016) oder Yes No Maybe (DOK.fest 2016) montiert beziehungsweise co-montiert hatte – in ihrem Versuch, den eigenen Ursprüngen näher zu kommen, eine Kamera auf: Einmal vor ihrer Mutter Angela, ein anderes Mal vor ihrem Vater Christian.

Getrennt voneinander befragt sie sie und will nach einem Vierteljahrhundert ihrer eigenen Zeugung nun endlich wissen, wie das damals eigentlich genau war: Mit dem ersten Kuss wie dem ersten Sex, all den damaligen Träumen und Wunschvorstellungen ihrer libertär wirkenden Eltern, aber auch den schnell wachsenden Spannungen zwischen den einstigen „Inselbewohnern“ im längst vergangenen West-Berlin der 1980er Jahre. Nur eine einzige Fotografie, aufgenommen in Blütlingen, existiert von damals. Alles andere verbirgt sich in den Erinnerungen von Christian und Angela: Verborgen hinter einigen markanten Gedächtnislücken. Oder sind es eher „Gedächtnislügen“?

Das erste Kennenlernen am Wannsee … oder was es doch bei einer Freundin? „Wir haben Theater gespielt?“ – „Kannst du dich daran erinnern?“ Wann begannen die ersten Zärtlichkeiten zwischen den beiden Befragten, die sich im Grunde bis heute nicht immer automatisch voller Stolz und Überzeugung als ihre Eltern zu erkennen geben, was für die junge Regisseurin während der Dreharbeiten ein persönlich besonders anstrengender Parforceritt gewesen sein muss: Auch davon erzählt Er Sie Ich angenehm unaufdringlich, fernab manch gängiger Ego-Dokumentarfilm-Methoden, die an deutschsprachigen Filmhochschulen aktuell auffällig oft gelehrt werden.

Nein, ganz in Gegenteil: Carlotta Kittel gelingt es gerade durch ihre stark konzentrierte Fragetechnik, die unausgesprochen, aber stets spürbar, auf einen Dialog statt auf weitere gegenseitige Vorwürfe setzt, den ebenso konzentrierten Zuschauer speziell in den ersten 30 Minuten für sich und ihren Film gewinnen zu können. Denn vor dem inneren Auge des Betrachters entspinnt sich aus den minutenlangen Gedankenfetzen ihrer Eltern – und erst recht durch die gleichzeitig erlebbaren Reaktionen von beiden – längst ein ganz eigener Film über ein Paar, das „nie eines war“ (Christian), das „sich aber liebte“ (Angela) – und dessen „Familienprodukt“ in gewissem Sinne Carlotta nun mal ist: „Ich bin das einzige, was meine Eltern verbindet.“

Kittels Vater wirkt dabei gerade anfangs nicht gerade sympathisch, sondern betont ernst und emotional deutlich unterkühlt, immer etwas frotzelnd im Ton. In der Mimik und Gestik ihrer Mutter lässt sich dagegen das ganze Familiendrama – bis zum überraschenden Ende – nochmals ziemlich gut mitvollziehen. War Carlotta eventuell das „Produkt eines Rechenfehlers“? Darf sie sich heute nach außen hin überhaupt als „Wunschkind“ bezeichnen? Angela hatte bereits zuvor ein Kind abgetrieben, soviel kann an dieser Stelle zumindest verraten werden. Ebenso, dass beide Elternteile in diesem kurzen Zeitraum des intensiven Kennenlernens – waren es nun wirklich lediglich 31 Tage? – „ständig miteinander geschlafen“ (Angela) haben.

Er Sie Ich gleicht in seiner formal-strengen Form über weite Strecken einem mitgedrehten Seelenstriptease für alle Beteiligten, ob sie nun wollen oder nicht. Denn irgendwann holt schließlich jeden die eigene Vergangenheit ein – und vorher aufgesetzte Masken fallen zwangsläufig herab. Es ist eben schlichtweg ein Film über zwei Menschen, zwei Wahrnehmungen, mindestens zwei Blickwinkel – und zahllose Widersprüche oder Erinnerungslücken. Nicht mehr, aber auch nicht weniger.
 

Er Sie ich (2017)

Am Anfang waren Glückskekse. Welchen Spruch werden sie beinhalten? Den üblichen Esoterik-Nonsens – oder doch eine kleine, sinnvolle Gedankenstütze für den eigenen Lebensweg? Regisseurin Carlotta Kittel gibt zu Beginn ihres sehr persönlichen Dokumentarfilmexperiments „Er Sie Ich“ jedem Elternteil einen solchen Glückskeks in die Hand.

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