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Der ewige Klassenkämpfer: Ken Loach in neun Filmen

Ein Beitrag von Falk Straub

Der Titel seines neuen Werks „The Old Oak“ ist geradezu sinnbildlich für den Filmemacher Ken Loach. Fast 90 Jahre hat er inzwischen auf dem Buckel und wird nicht müde, mit seinen Dramen gegen die Ungleichheit anzufilmen. Unverrückbar wie eine alte Eiche, tief im politischen Sozialismus und im filmischen Realismus verwurzelt.

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Kes / Brot und Rosen / The Old Oak
Kes / Brot und Rosen / The Old Oak

Dass sich der am 17. Juni 1936 im englischen Nuneaton in der Grafschaft Warwickshire geborene Regisseur immer noch nicht in den mehrfach angekündigten Ruhestand verabschiedet hat, hat viel mit dem Zustand unserer Welt zu tun: Ken Loachs mitfühlender Blick auf diejenigen, die in der Gesellschaft ganz unten stehen, ist nötiger denn je. In The Old Oak blickt er auf einen nordenglischen Küstenort, der schon bessere Tage gesehen hat. Landflucht, Leerstand und Kinderarmut prägen das Bild. Und mitten hinein in diese Tristesse platzt ein Bus mit einer Gruppe Geflüchteter aus Syrien, die alles andere als mit offenen Armen empfangen werden. Wer Loachs neuestes und vermeintlich letztes Drama sieht, sieht im Grunde seine gesamte Filmografie; so sehr sind seine Themen in The Old Oak verdichtet.

ZURÜCK IN DIE VERGANGENHEIT: WIE DER ANFANG UND DAS ENDE EINANDER GLEICHEN

Die wahre Qualität eines Werks zeigt sich oft erst mit dem nötigen zeitlichen Abstand. Diese Binsenweisheit lässt sich auf Ken Loachs Werk übertragen. Wie Loachs ersten Dramen, so erging es auch ihrem Schöpfer: anfänglich kritisiert, ignoriert oder geringgeschätzt, zählen Loach und dessen Filme inzwischen zur Weltspitze. Nicht zuletzt die spät in seiner Karriere erhaltenen Goldenen Palmen bei den Filmfestspielen von Cannes (für The Wind that Shakes the Barley und Ich, Daniel Blake) zeugen davon. Loach ist einer von nur neun Regisseuren, dem das Kunststück geglückt ist, von der Croisette gleich zweimal die höchste Auszeichnung mit nach Hause zu nehmen. Bis dahin war es ein weiter Weg.

Seine ersten Gehversuche machte der Sohn eines Elektrikers, der Jura studierte und als Schauspieler mit einem Tourneetheater unterwegs war, bei der British Broadcasting Corporation, kurz BBC. Hier realisierte er im Zuge der Anthologie-Reihe The Wednesday Play (1964–1970) insgesamt zehn Fernsehfilme, bevor er zum Kino wechselte. Der aufsehenerregendste davon ist Cathy Come Home (1966).

SIE KÜSSTEN UND SIE SCHLUGEN SIE: CATHY COME HOME (1966), POOR COW (1967), KES (1969)

Manche Frühwerke enthalten ein gesamtes Lebenswerk in nuce. Man denke nur an David Lynchs Langfilmdebüt Eraserhead (1977), in dem jede Facette seines weiteren Schaffens bereits angelegt ist. Bei Ken Loach verhält es sich ähnlich, auch wenn Lynch und Loach filmisch kaum weiter voneinander entfernt sein könnten: der eine ein Surrealist, der andere ganz Realist. Was die beiden dennoch auf eine seltsame Weise eint: dass auch Loach auf seine Art ein Albtraumfilmer ist. Und auch in seinem Fall sind in Cathy Home Come bereits viele seiner wiederkehrenden Motive zu finden.

Cathy Come Home
„Ein Fernsehspiel mit großem Impact: Cathy Come Home“

Als das Fernsehspiel (nach dem gleichnamigen Theaterstück des Schriftstellers Jeremy Sandford) am 16. November 1966 über den Äther ging, liefen bei der BBC die Telefonleitungen heiß. Der öffentliche Aufschrei ob des Gezeigten war groß: Der soziale Abstieg des jungen Paars Cathy (Carol White) und Reg (Ray Brooks) und ihres Nachwuchs bis in die Obdachlosigkeit wird minutiös und in einem dokumentarischen Stil nachgezeichnet. Fragt man Ken Loach, hat sich im Anschluss daran allerdings kaum etwas geändert; was mit ein Grund dafür sein dürfte, weshalb der Filmemacher die bereits in diesem frühen BBC-Film verhandelten Themen bis heute aufgreift: Armut, Arbeitslosigkeit und Obdachlosigkeit, die soziale Stellung der Frau und die Rechte von Müttern (bzw. Eltern) sowie die Ausgrenzung von, der Hass auf und die Gewalt gegen Minderheiten. Heute zählt das Fernsehdrama zu den renommiertesten seines Fachs. Bei Umfragen und Wahlen zu den besten britischen TV-Sendungen des 20. Jahrhunderts landet Cathy Come Home regelmäßig weit vorn. Wie glaubhaft Loachs Inszenierung war, veranschaulicht die Anekdote, dass Passanten, die Carol White auf der Straße begegneten, ihr noch Jahre nach der Ausstrahlung Geld zugesteckt haben sollen, weil sie sie für ihre Filmfigur und für tatsächlich bedürftig hielten.

Ein Jahr nach Cathy Come Home nahm Loach in seinem ersten Kinofilm erneut die gesellschaftliche Stellung der Frau in den Blick. Poor Cow (1967), dessen Romanvorlage von Jeremy Sandfords Frau Nell Dunn stammte, beginnt mit einer für damalige Verhältnisse geradezu schockierenden, weil echten Szene einer Geburt und folgt der Mutter Joy (abermals von der „Battersea Bardot“ Carol White gespielt) und ihrem Neugeborenen durch die kommenden Jahre. Joys Leben ist alles andere als eine Freude (wie es der ironisch verwendete Filmtitel bereits andeutet). Von ihrem Mann, dem Kleinkriminellen Tom (John Bindon), geprügelt und im Stich gelassen, als dieser im Gefängnis landet, schlägt sich Joy als alleinerziehende Mutter durch. Mal verdient sie ihr Geld als Bardame, mal als Aktmodell – immer auf der Suche nach einem Mann, der es eine Weile mit ihr und sie finanziell aushält, wie Toms Kumpel Dave (Terence Stamp). Aus heutiger Sicht wirkt Loachs Kinodebüt wie eine Art Anti-Alfie aus weiblicher Perspektive. Denn im Gegensatz zu dem von Michael Caine gespielten Titelhelden in Alfie lebt Carol Whites Joy in Poor Cow die sexuellen Freiheiten der Swinging Sixties nur eingeschränkt aus. Ein Teil ihrer Männergeschichten ist reine Notwendigkeit, um für sich und ihren Sohn zu sorgen. Trotz eines ironischen Tons und einer leichtfüßigen Inszenierung samt improvisierter Szenen und eines Soundtrack von Donovan schwingt so auch immer die ganze Schwere sozioökonomischer Abhängigkeiten mit. Die Stellung der Frau in der Gesellschaft mag sich seither verbessert haben. Wie schnell sie trotzdem prekär werden kann, hat Loach in seiner Karriere mehrfach verhandelt. Als besonders mit- wie herzzerreißendes Beispiel sei an dieser Stelle auf Ladybird Ladybird aus dem Jahr 1994 verwiesen.

Die Taglines auf dem Filmplakat zu Loachs zweitem Kinofilm erinnern wiederum an einen anderen Klassiker der Filmgeschichte. „They beat him. They deprived him. They ridiculed him. They broke his heart. But they couldn’t break his spirit“, ist auf dem Poster von Kes (1969) zu lesen. Zu Deutsch: „Sie schlugen ihn. Sie beraubten ihn. Sie verspotteten ihn. Sie brachen ihm das Herz. Aber sie konnten seinen Geist nicht brechen.“ Diese Sätze könnten auch auf dem Plakat zu François Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn (1959) stehen. Zehn Jahre nach Truffauts bahnbrechendem Werk drehte Loach seine eigene Variante eines genredefinierenden und Generationen von Filmemachern prägenden Coming-of-Age-Dramas. Die Romanvorlage A Kestrel for a Knave (deutsch: Und fing sich einen Falken) stammte von Barry Hines. Anders als Truffauts Protagonist Antoine Doinel wächst Loachs Protagonist Billy Casper (David Bradley) jedoch nicht in einer pulsierenden Hauptstadt, sondern in einer vom Kohlebergbau geprägten Kleinstadt in Englands Norden auf, wo er sich als Zeitungsjunge ein paar Pennys dazuverdient. Das hart erarbeitete Geld steckt er in sein Hobby: die Falknerei, die er sich selbst aus Büchern beibrachte, und seinen geliebten Turmfalken Kes. Bis auf eine Ausnahme ausschließlich mit Laien besetzt, teils mit versteckter Kamera an Originalschauplätzen und im dicken Yorkshire-Akzent gedreht, markierte Kes Loachs ersten Erfolg, der bei Publikum wie Kritik gleichermaßen ankam – und bis heute trotz oder gerade wegen seines bitteren Endes tief berührt.

Allein mit diesen drei Filmen über drei Geküsste und Geschlagene brachte Loach im Jahrzehnt, als die Neuen Wellen rund um den Globus schwappten und Großvaters Kino gehörig durcheinanderwirbelten, die britische Filmlandschaft in Bewegung. Es sollten nicht Loachs letzte Versuche bleiben, angesichts schreiender Ungerechtigkeiten die Gemüter in Wallung zu versetzen.

ARBEITSKÄMPFE UND REINIGENDE KRÄFTE: RIFF-RAFF (1991), BROT UND ROSEN (2000), THE NAVIGATORS (2001)

Fast Forward in die 1990er: Loachs Themen sind immer noch dieselben, weil sie wieder aktuell sind. Hatte sich die Schere zwischen den oberen und unteren Einkommen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts langsam zu schließen begonnen, ging sie nun durch den Thatcherismus wieder weiter auseinander. In die Aufbruchstimmung nach dem Fall des Eisernen Vorhangs mischen sich bei Loach folgerichtig Skepsis und eine Kritik am Status quo. Er erzählt von Bauarbeitern, die der Wohnungsnot nicht Herr werden (Riff-Raff), von Bahnarbeitern, die durch die Wirren der Privatisierung navigieren (The Navigators) und vom schmutzigen Geschäft mit Reinigungskräften (Brot und Rosen).

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Sechs Jahre bevor er als arbeitslos gewordener Stahlarbeiter Gaz in Ganz oder gar nicht zum Stripper umschulte, verdingte sich der Schauspieler Robert Carlyle unter Loachs Regie in Riff-Raff (1991) auf dem Bau. Seine Figur Stevie macht pragmatische Miene zum ausbeuterischen Spiel. Während sein Kollege Larry (Ricky Tomlinson) große Reden schwingt und beklagt, dass es nicht sein könne, dass in einem der reichsten Länder der Welt Wohnungsnot herrscht und Menschen auf der Straße sitzen, sieht Stevie dem Treiben lange Zeit tatenlos zu. Er verliebt sich in die arbeitslose Sängerin Susan (Emer McCourt), die erst allein, später mit ihm eine leerstehende Wohnung besetzt. Und er hört einen Schwarzen Kollegen von einer besseren Zukunft in Afrika träumen, während die afrikanischen Kollegen, die auf der Suche nach einer besseren Zukunft eigens nach England gekommen sind, darüber nur lächeln. Als der Träumer vom dürftig gesicherten Gerüst stürzt und beinahe stirbt, schreitet Stevie schließlich zur Tat. Das Finale furioso ist ein kleiner Vergeltungsakt der Gebeutelten gegen die Großkopferten. Eine bittersüße Rachefantasie, die nicht untypisch für Loachs Filme ist, in denen Ohnmacht und Selbstermächtigung ebenso Hand in Hand gehen wie Weinen und Lachen.

Subtil geht es dabei eher selten zu. Dass die Wohnungsnot in Riff-Raff auch ein Klassenkampf ist, steht als Graffiti auf einer Wand. Und die Gentrifizierung schaut in Form verschleierter Millionärsgattinnen aus dem Nahen Osten vorbei. In Raining Stones (1993) und The Navigators (2001) stecken die Arbeiter buchstäblich in der Scheiße bzw. werden damit begossen (so wie sich der Protagonist in Sorry We Missed You durch die Berufswahl quasi selbst ans Bein pinkelt). Was alle eint, ist der Wille, nicht aufzustecken und sich etwas einfallen zu lassen, um das Blatt zu wenden. Während die Bahnarbeiter in The Navigators den neuen Bossen, die alles und jeden sinnlos wegrationalisieren, lange Zeit mutig, letzten Endes aber erfolglos die Stirn bieten, ist die gewerkschaftliche Organisation der Reinigungskräfte in Brot und Rosen (2000), Ken Loachs filmischem Abstecher nach Amerika, sogar von Erfolg gekrönt, auch wenn seine Protagonistin Maya (Pilar Padilla an der Seite des späteren Oscar-Preisträgers Adrien Brody) dafür einen hohen Preis bezahlen muss. Auf ebenjene Solidarität, wie sie in Gewerkschaften zu finden ist, kommt es Loach an. Denn nur im Verbund mit anderen und im Kompromiss und Konsens mit den Stärkeren, Mächtigeren und Wohlhabenderen kann es gelingen, Schwächere zu stärken. Dass es stattdessen nur ausreichend Eigeninitiative bedürfe, um sich selbst am eigenen Haarschopf aus dem Dreck zu ziehen, das bleibt auch bei Loach eine Münchhauseniade, die die neoliberale Politik dem Wahlvolk weismachen will. Dessen ist sich freilich nicht jede von Loachs Figuren bewusst, weshalb dem Regisseur in (fast) allen Filmen bestimmte wissende Figuren als Sprachrohre dienen.

NEUE VERHÄLTNISSE, ALTE PROBLEME: ICH, DANIEL BLAKE (2016), SORRY WE MISSED YOU (2019), THE OLD OAK (2023)

In The Old Oak ist es der verstorbene Vater des Kneipenwirts TJ Ballantyne (Dave Turner), der dem Film indirekt als Sprachrohr dient. Denn in der Erinnerung seines Sohns leben seine politischen Weisheiten fort. Im Gespräch mit der Geflüchteten Yara (Ebla Mari), die gezwungenermaßen bereits in jungen Jahren jede Menge Lebensweisheit erlangt hat und den Eindruck erweckt, als schlummere eine alte Seele in ihr, weist Ballantyne auf die Macht der Arbeiterklasse hin. Besonders bildlich gerät das, wenn Ballantyne und Yara eine tausend Jahre alte Kathedrale besuchen. Sein Vater habe immer gesagt, „die Kathedrale gehört nicht der Kirche. Sie gehört den Arbeitern, die sie bauten“, erinnert sich Ballantyne. Was die Bauarbeiter aus Riff-Raff wohl dazu sagen würden?

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Nach Abstechern in den Historienfilm (The Wind that Shakes the Barley, Jimmy’s Hall), ins Thrillergenre (Route Irish) und ins komödiantische Fach (Looking for Eric, Angels‘ Share – Ein Schluck für die Engel) ist Loach mit seinen letzten drei Kinofilmen auf vertrautes Terrain und zu alter Stärke zurückgekehrt. Gänzlich verlassen hat er es freilich nie, spielt die soziale Frage doch in jedem seiner Filme eine Rolle. In Ich, Daniel Blake (2016), Sorry We Missed You (2019) und The Old Oak (2023) nimmt sie nun aber wieder den ihr gebührenden Raum ein. Wenn man so will, dann lässt sich The Old Oak als letzter Teil einer inoffiziellen Trilogie über unser derzeitiges (Arbeits-)Leben lesen. In Ich, Daniel Blake ging es um die Mühlen der Bürokratie, die zwei Hilfesuchende langsam zu zerreiben drohen, in Sorry We Missed You um eine Familie, die an den zeitraubenden, unterbezahlten und unwürdigen Arbeitsverhältnissen der Eltern langsam zerbricht. Ein Thema, das in beiden Filmen auftaucht und in The Old Oak schließlich zum zentralen wird, ist, eine Minderheit gegen eine andere auszuspielen. Statt nach oben zu schlagen, wird nach unten getreten. Doch zum Glück spielen nicht alle dieses Spiel mit. 

The Old Oak ist Ken Loachs letzter Film – wahrscheinlich. Denn diese Ankündigung macht er nicht zum ersten Mal. Ob es dabei bleibt, wird wohl auch vom Zustand unserer Welt abhängen. Derzeit stehen die Chancen (leider) gut, dass der ewige Klassenkämpfer des Kinos noch nicht sein letztes Wort gesprochen hat.

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