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Locarno Film Festival

Expeditionen ins Nachkriegskino (Teil 4) - Die Retrospektive beim Filmfest Locarno

Meinungen
Kirmes

Politische Perspektiven

Mit Inkrafttreten des Grundgesetzes am 23. Mai 1949 gegründet, ist die Bundesrepublik Deutschland ein junger Staat mit neuer politischer und gesellschaftlicher Struktur. Doch die Vergangenheit war weiterhin präsent, gerade das Kino durchzog personell (vgl. Teil 2) und inszenatorisch (vgl. Teil 3) Kontinuität. Dennoch gab es in den Filmen, die im Kino zu sehen waren, neben Herzschmerz und Heimatidylle bisweilen erstaunliche Bestrebungen zur Aufklärung, Vergangenheitsbewältigung und Gegenwartsauseinandersetzung.

(Volks-)Bildung durch Film

Was machte man mit dem Nachkriegsdeutschland? Mit dieser Frage sahen sich die alliierten Besatzungsmächte nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs konfrontiert. Währungs- und Wirtschaftsreformen trugen zum wirtschaftlichen Wiederaufbau bei, aber das Volk musste – davon waren die Alliierten überzeugt – zur friedlichen und demokratischen Gesellschaft „erzogen“ werden. Sie setzen auf Re-education durch Medien, Bildung und Kultur. Es gab Diskussionen, Gespräche, Informationsveranstaltungen, Besuche, Hörfunksendungen und auch Filme, die er- und aufklärten.

Gerade der Film war nach Auffassung von William D. Patterson vom Office of War Information besonders einflussreich für die Aufklärung und Schulung der Bevölkerung. Im Zuge der Re-education entstanden etwa 200 Dokumentarfilme, in denen zunächst die Bevölkerung mit den Folgen des Nationalsozialismus konfrontiert wurde. Beispielsweise wurden in Die Todesmühlen (1945) Bilder von Konzentrations- und Vernichtungslagern gezeigt, die die deutsche Bevölkerung mit den Verbrechen konfrontierten, die vor ihren Augen begangen wurden. Ab 1949 veränderte sich der Tenor der Filme, die nun vornehmlich die Akzeptanz der alliierten Besatzung und des neuen Staates steigern sollten. Beispielhaft sind dafür 80 35mm-Kurzfilme aus den „Zeit-im-Film“-Produktionen. Sie hatten eine Länge von ca. 15 Minuten und liefen im Vorprogramm der Kinos, um den Deutschen zentrale demokratische und westliche Werte sowie Vertrauen in die neuen Strukturen zu vermitteln.

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(Olaf Möller, Kurator der Locarno-Retrospektive „Geliebt und verdrängt — Das Kino der jungen BRD 1949-1963“, auf die Frage, wie gut die Maßnahmen der Alliierten zur Re-Education der Deutschen im Nachkriegskino funktionierten)

Lernen als Selbstzweck ist eine wunderbare Vorstellung, die heutzutage allzu oft vom Optimierungswahn überlagert wird. Denn bei aller Unterhaltung kann man auch vom Film etwas lernen.

Vergangenheitsbewältigung im Kino

In vielen Aspekten eines Films lässt sich eine Reaktion auf den Nationalsozialismus sehen: die Suche nach einem neuen Heimatbegriff, die Sehnsucht nach Unterhaltung und Herzschmerz sind darauf zurückzuführen, zeugen aber vor allem von Verdrängung. Aber wie ging das BRD-Nachkriegskino mit der Nazi-Zeit um?

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(Olaf Möller zur Frage, welchen Blick das unmittelbare BRD-Nachkriegskino zurück auf die Nazi-Zeit und den Zweiten Weltkrieg wirft)

Eine sehr direkte Auseinandersetzung mit der Zeit des Nationalsozialismus wird in dem Film Kirmes von Wolfgang Staudte vorgenommen. Wolfgang Staudte führte Regie bei dem ersten deutschen Nachkriegsfilm Die Mörder sind unter uns (1946) und arbeitete bis 1955 hauptsächlich für die DEFA, was in der BRD nicht gerne gesehen wurde. In der BRD versuchte er immer wieder, gesellschaftskritische Anliegen im Film zu inszenieren, aber erst 1959 lieferte er mit Rosen für den Staatsanwalt einen Film ab, der die nationalsozialistische Vergangenheit behandelt und zudem beim zeitgenössischen Publikum ein Erfolg war. Ein Jahr später warf man ihm für Kirmes jedoch vor, ein „Nestbeschmutzer“ zu sein, ein Vorwurf, der sich 1964 bei seinem Film Herrenpartie wiederholen sollte.

In Kirmes setzt ein Leichenfund in einem Dorf in der Eifel die Erinnerung an die letzten Kriegswochen in Gang, in der das Leben der Dorfbewohner und ihr Verhalten unter der Diktatur gezeigt wird.

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(Nachkriegskino im Selbstversuch – Kirmes)

Auseinandersetzung mit der Gegenwart

Ebenfalls in einem kleinen Dorf spielt Helmut Käutners Film Schwarzer Kies (1961), der insbesondere von der bundesdeutschen Gegenwart erzählt. Eine amerikanische Militärbasis wurde in diesem Ort errichtet, so dass zu den 250 Einwohnern noch 6000 Soldaten sowie unzählige neue Bewohner kamen, die wirtschaftlich von ihnen profitieren wollten. Es waren vor allem Barbetreiber und Prostituierte. Robert Neidhardt (Helmut Wildt) hat es ebenfalls auf die schnelle Mark abgesehen. Er ist Lastwagenfahrer und liefert den Kies zum Bau einer Startbahn auf der Militärbasis. Immer wieder unterschlägt er Kies, um ihn lukrativ an deutsche Bauunternehmer zu verkaufen. Dadurch verdient er an einer Fuhre doppelt. Er ist auf seinen Profit aus, denkt nicht an die Zukunft, sondern lebt im Hier und Jetzt. Lose liiert ist er mit der hübsch-naiven Elli (Anita Höfer), die wie so viele junge Mädchen in einer Animierbar in dem Ort arbeitet. Doch dann begegnet Robert seiner einstigen Freundin Inge (Ingmar Zeisberg) wieder – und dadurch gerät sein Dasein zusehends ins Wanken.

Käutner zeigt in seinem Film zum einen die Besatzungsrealität in Deutschland – die auf das Besatzungsstatut folgenden alliierten Vorbehaltsrechte wurden erst 1991 aufgehoben –, zum anderen erzählt er von den Erwachsenen, die die Weltwirtschaftskrise und den Zweiten Weltkrieg miterlebt haben. Dabei durchzieht seinen Film einen Existentialismus, der sich sehr direkt mit der monetären Existenz verbindet: Roberts Vermittler der illegalen Geschäfte wird panisch, als ihm abermals der Verlust seines Vermögens droht, Roberts ehemalige Geliebte sehnt sich nach Stabilität und Sicherheit, kann aber von ihm und der Erinnerung an eine Zeit, in der nur der gegenwärtige Tag zählte, nicht lassen. Wer in diesem Film nicht auf seinen eigenen Vorteil bedacht oder skrupellos ist, wird sterben. Ein Menschenleben scheint weniger wert zu sein als der eigene Vorteil. Es ist eine düstere Sichtweise des eigenen Landes, die weder an den Kinokassen noch bei der Kritik gut ankam – im Rückblick aber gerade wegen dieses Pessimismus und der illusionslosen Figuren sehenswert ist.

Das deutsche Nachkriegskino – Versuche mehrerer Fazits

Das bundesdeutsche Nachkriegskino ist vielfältiger, als man meint, gerade die politischen Filme beweisen bisweilen erstaunliche Direktheit und Deutlichkeit. Dabei sollte man sich Filme wie Kirmes heutzutage ansehen, um sich zu erinnern, wie nah eine Vergangenheit ist, in der Menschen ausgegrenzt und ermordet wurden, in der sich viele ihre Menschlichkeit nur unter Lebensgefahr bewahren konnten.

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(Kein Schlussstrich: Was man heute aus dem BRD-Kino der 1950er Jahre lernen kann)

Darüber hinaus stellt sich im Kino die Frage, ob der deutsche Film heutzutage wirklich besser ist – oder ist an die Stelle der Popularität des Heimatfilms die Beliebtheit von belanglosen Komödien getreten, die ebenfalls eine Flucht aus der Realität bedeuten und inszenatorisch überwiegend bei denselben Mustern bleiben? Es wird immer wieder gesagt, dass das deutsche Kino besser ist als sein Ruf. Dass es damals wie heute bemerkenswerte Filme gibt, die aus der Masse herausragen. Diese Retrospektive zeigt einige dieser Filme aus den Jahren 1949 bis 1963, Dokumentarfilme wie Verfluchte Liebe deutscher Film und Zeigen was man liebt verweisen auf die Filme der 1960er und 1970er Jahre, die nicht vergessen werden sollen – und es ist an uns allen, die besonderen Filme der Gegenwart zu finden und damit ein wenig dazu beizutragen, dass in der Geschichte des deutschen Films nicht nur von Vergessenen und Übersehenen gesprochen wird.

Den ersten Teil zur Retrospektive „Geliebt und verdrängt: Das Kino der jungen Bundesrepublik Deutschland“ gibt es hier, den zweiten hier, den dritten hier.

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