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Zeigen durch Nicht-Zeigen

Ein Beitrag von Lucas Barwenczik

„Ich denke, dass Sie das Band vernichten sollten“, rät Regisseur Werner Herzog in seinem Dokumentarfilm „Grizzly Man“ Jewel Palovak. „Ich denke, das sollten Sie tun, weil es Ihr Leben lang der weiße Elefant in Ihrem Zimmer sein wird.“ Gemeint ist ein Band mit Tonaufnahmen des gewaltsamen Todes ihres Geschäftspartners, dem leidenschaftlichen Tierschützer Timothy Treadwell.

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Grizzly Man
Filmstill aus "Grizzly Man"

Er wurde von den Bären attackiert, in deren Nähe er jahrelang lebte. Die Verschlussklappe der Kamera klemmte, als wollte selbst das Gerät seine Augen verschließen, daher existiert von diesem Moment nur eine furchterregende Geräuschkulisse. Im Film zu hören ist sie aber nicht. Die letzten aufgezeichneten Bilder hingegen, die Treadwell noch lebendig zeigen, sind enthalten. Wenn der Tod in diesen Einstellungen zu sehen ist, lauernd, dann hat er sich sehr gut versteckt. Es sind Bilder, die halb Denk- und halb Mahnmal sind.

In Wovon träumt das Internet? von 2016 gibt es ein Echo dieser Szene, aber unter anderen Vorzeichen. Wieder geht es um einen schrecklichen Todesfall: Eine junge Frau namens Nikki Catsouras wurde bei einem Verkehrsunfall getötet, ein Autobahnpolizist fotografierte ihre Leiche. Das Bild gelangte ins Internet und wurde verbreitet, die Aufnahmen zu zerstören war nicht mehr möglich. Herzog versucht, den weißen Elefanten sichtbar zu machen. Er entdeckt ihn in den Gesichtern der Familie Catsouras, die von sadistischen Menschen im Internet immer wieder mit Fotos von Nikkis Leiche und widerwärtigen Kommentaren belästigt wurden.

In beiden Fällen entscheidet sich der Regisseur aus leicht nachvollziehbaren, moralischen Gründen dagegen, die Tragödien zu zeigen. Er erzählt sie lediglich nach und beschwört sie. Doch natürlich handelt es sich auch um eine ästhetische und dramaturgische Entscheidung: In beiden Fällen bekommen sie gerade dadurch eine mythische Qualität, dass wir sie nicht sehen und hören, dass wir sie nicht erfahren können. So wie ein Horrorfilm-Monster im Schatten zu der Summe unser Ängste heranwächst, dienen auch diese verborgenen Schrecken uns als Projektionsfläche. Menschen neigen dazu, alles Verborgene als Herausforderung zum Aufdecken anzusehen, und sei es nur durch unsere Fantasie. Wo unsere Schaulust nicht befriedigt wird, hilft oft ein Kopfkino aus, jeder Film ist die Summe aus tatsächlich Gezeigtem und dem dabei Gedachten und Empfundenen. Was den furchtlosen Werner Herzog, Abenteurer und Grenzgänger, erschüttern kann, würde uns Normalsterbliche unwiderruflich in Fetzen reißen, so wird in Grizzly Man suggeriert. Auch das Leid der Familie Catsouras erscheint noch einmal größer, weil es – schwer greifbar, wie es erscheint — zur Summe aller schlechten Eigenschaften des Internets stilisiert wird.

Wovon träumt das Internet
Filmstill aus Wovon träumt das Internet?. Copyright: Koch Films

 

„Kino ist eine Frage dessen, was im Bildrahmen ist und was außerhalb davon“, wird Martin Scorsese zitiert. Die Fragen, was gezeigt werden kann, darf und soll, wie das geschieht und zu welchem Zweck, sind ein wichtiger Bestandteil des Diskurses um das Kino seit seiner Entstehung. Der Film zeigt, er stellt dar, also wird ihm immer wieder Voyeurismus vorgeworfen. (Oft sind die Vorwürfe Spiegelungen der Kritik, der sich Nachrichtensender ausgesetzt sehen. Die Grenzen des öffentlichen Interesses werden gegen die Privatsphäre des Einzelnen aufgewogen, oft wird auch die Zumutbarkeit von Gewalt oder Sexualität hinterfragt.) Am wirkungsvollsten sind dabei in der Regel andere Filme. Schon oft wurde von dem gierigen Auge der Kamera erzählt, in Peeping Tom (Augen der Angst) etwa fallen die Rolle von Kameramann und Mörder gleich ganz zusammen. Filmemacher haben sich im Laufe der Zeit zahlloser verschiedener Ansätze bedient, um mit dieser Problematik umzugehen. Sie reflektieren Fragen der Darstellung, manchmal versuchen sie auch einfach, sich gegen den Vorwurf der Ausbeutung oder Vergleichbares zu immunisieren.

Ein interessantes Fallbeispiel sind zwei Filme, die im vergangenen Jahr nahezu gleichzeitig auf dem Sundance-Filmfestival gezeigt wurden und nahezu dasselbe Thema behandeln: Beide erzählen von der amerikanischen Fernsehmoderatorin Christine Chubbuck, die sich 1974 vor laufender Kamera mit den Worten „In keeping with Channel 40’s policy of bringing you the latest in blood and guts, and in living color, you are going to see another first – attempted suicide.“ das Leben nahm.  Es war ein Akt von großer Symbolwirkung, den bereits 1976 Paddy Chayefsky in seinem Drehbuch zu Sidney Lumets Mediensatire Network aufgriff. Chyefsky sah einen subversiven Akt in Chubbucks Handeln, der die Obsessionen von Publikum und auf Quoten schielende Senderchefs gleichermaßen angriff und ihre Methoden gegen sie selbst kehrte.

Vierzig Jahre später beschäftigen sich damit sowohl der Spielfilm Christine von Antonio Campos als auch die Hybrid-Kreation Kate Plays Christine von Robert Greene, die zwischen dokumentarischen und fiktionalen Mitteln changiert. Während Christine eine relativ konventionelle Fiktionalisierung der Geschehnisse darstellt, mit Rebeca Hall in der Hauptrolle, präsentiert Greene eine Art Meta-Fiktion: Gezeigt wird die Schauspielerin Kate Lyn Sheil (bekannt aus zahlreichen Indie-Produktionen, beispielsweise von Alex Ross Perry) bei ihren Recherchearbeiten für einen (nichtexistierenden) Film über Chubbucks Leben und Sterben. Der weiße Elefant im Raum sind dabei die Aufnahmen, die ihren Tod zeigen. Um Chubbucks Körpersprache und Diktion zu studieren, sucht Kate Videos aus der langen Karriere der Moderatorin. Dabei muss sie immer wieder klarstellen, dass sie nicht nach den Aufzeichnungen der letzten Minuten sucht, sondern nach dem Rest ihres Lebens. Zunehmend beginnt sie sich mit der Verstorbenen zu identifizieren und beginnt den Gedanken, ihren Tod im Rahmen des Films nachzustellen, zu hinterfragen.

Kate plays Christine
Filmstill aus Kate Plays Christine. Copyright: Dogwoof Global

 

Auch wenn die Filme parallel und unabhängig voneinander produziert worden, liest sich der eine wie eine Kritik am anderen. Frei nach Jacques Rivettes Aussage: „Die einzig wahre Kritik eines Films kann nur ein anderer Film sein.“ Christine zeigt den Selbstmord sehr direkt, in einer Nahaufnahme, gefolgt von reaction shots anderer Darsteller. Kate Plays Christine hingegen verwandelt sich in späten Szenen in eine Art „Episches Theater“ und erhebt mit den Stimmen von Kate und Christine Anklage gegen das Publikum. Letztendlich wird sogar Chubbucks Waffe auf den Zuschauer gerichtet.

Mit dieser Geste steht der Film nicht allein: Filme, die sich dezidiert mit einer Tragödie beschäftigen, belassen es selten dabei, diese nicht zu zeigen. Sie erliegen oft dem Impuls, das Publikum für seinen Voyeurismus metaphorisch zu bestrafen. Tim Suttons Dark Night beispielsweise ist auf ähnliche Weise aufgebaut. Das experimentelle Drama behandelt ebenfalls eine Tragödie, den Amoklauf von Aurora, bei dem ein 24-Jähriger bei einer Mitternachtspremiere von The Dark Knight Rises zwölf Menschen erschoss und 58 weitere verletzte. Auch Sutton zeigt das zentrale Ereignis nicht, sondern schafft ein Mosaik aus den normalen Tagesabläufen einiger späterer Opfer und jenem des Täters. Der Film endet außerhalb des Kinosaals, statt Postern des Batman-Films hängen in den Gängen solche von Dark Night: statt den Filmfiguren gilt der Angriff final wieder dem Zuschauer.

Dark Night
Filmstill aus Dark Night. Copyright: Cinelicious Pics

 

Suttons Film wurde in Kritiken oft mit Gus Van Sants 2003 mit der Goldenen Palme ausgezeichnetem Drama Elephant verglichen, welcher frei auf dem Amoklauf an der Columbine High School von 1999 basiert. Auch dort folgt die Kamera Schülern ohne besondere dramaturgische Zuspitzung durch ihren Alltag, bis in den letzten Minuten der Schrecken losbricht. Wieder geht es um den Elefanten, den auch Herzog bemüht, um den sprichwörtlichen Elephant In The Room, der für das Offensichtliche steht, dass sich doch niemand anzusprechen traut.

Gus Van Sant wurde damals oft vorgeworfen, er missbrauche die Tragödie für seine Zwecke, zur Unterhaltung und als billigen Schockeffekt. Ein Vorwurf, der Tim Sutton oder Robert Greene sicher nicht (oder nur vereinzelt) gemacht wird. Unabhängig davon, wo man tatsächlich die Grenzen des Darstellbaren zieht, muss man sich bei diesem (und vergleichbarem) Kino des Zeigens durch Nicht-Zeigen die Frage stellen, ob die Evokation automatisch moralischer, feinfühliger oder sogar künstlerisch wertvoller ist als die Darstellung eines Ereignisses. Wer diese Filme sieht, weiß um die beschriebenen Ereignisse. Wo die Realität abgebildet wird, sind die angedeuteten oder erzählten Ereignisse automatisch Teil einer morbiden Werbekampagne. Sie verleihen ihren Schrecken dem Film, der sie behandelt — unabhängig davon, ob sie gezeigt werden oder nicht. Die Schattenrisse eines Objekts trennt nicht immer viel von seiner eigentlichen Form. Wie zuvor schon angedeutet, wird gerade das Unausgesprochene und Verborgene immer mystifiziert. Es bekommt eine düstere Heiligkeit, eine unheilschwangere Aura. Ist es nicht letztendlich egal, ob ein Bild gezeigt wird oder tausend Einzelpunkte seine exakte Form ergeben?

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