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Don't show, don't tell? - Über die Verantwortlichkeit im Audiovisuellen

Ein Beitrag von Andreas Köhnemann

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13 Reasons Why

Als die 13 Episoden umfassende erste Staffel der Serie Tote Mädchen lügen nicht (13 Reasons Why) am 31. März 2017 auf der Streaming-Plattform Netflix veröffentlicht wurde, löste sie rasch äußerst heftige Kontroversen aus. Die Produktion befasst sich mit dem Suizid einer Highschool-Schülerin, die sieben Kassetten hinterlässt, auf denen sie über die Hintergründe ihrer Tat spricht. Bald wurden in den Medien die Fragen diskutiert: Ist es (zu) gefährlich, dieses Thema zu behandeln? Und begeht die Serie auf narrativer und/oder auf inszenatorischer Ebene womöglich grobe Fehler im Umgang mit dem sensiblen Sujet?

Es gibt für Medien internationale Richtlinien für die Berichterstattung über Suizid. Darin heißt es, dass mehr als 50 wissenschaftliche Studien weltweit belegen, dass bestimmte Medienberichte zu einem Anstieg der Suizidwahrscheinlichkeit bei gefährdeten Personengruppen führen. Besonders riskant sei eine detaillierte, sensationsorientierte oder glorifizierende Darstellung des Suizids. Bei Nachahmungssuiziden wird vom „Werther-Effekt“ gesprochen. Der 1774 veröffentlichte Briefroman Die Leiden des jungen Werther von Johann Wolfgang von Goethe erzählt von einem Rechtspraktikanten, der eine verlobte und somit unerreichbare Frau liebt und sich deshalb das Leben nimmt, indem er sich erschießt. Die Tat des Protagonisten wird in vielen Details beschrieben; so wird etwa der Ort genannt und die Kleidung, die Werther dabei trug. Der Roman gilt als erster deutscher Bestseller, verursachte durch seinen Umgang mit dem Selbstmord-Thema aber auch einen Skandal. In einem Verbotsantrag von 1775 heißt es, das Buch sei „eine Empfehlung des Selbstmordes“ – und tatsächlich sind ungefähr ein Dutzend Fälle (bis ins Jahr 1833) dokumentiert, in denen die Sterbeszene des Romans mutmaßlich als Vorbild eines Suizids diente.

Dass nicht nur der medial vermittelte Suizid einer realen, speziell prominenten Person (auf den sich die erwähnten Richtlinien beziehen), sondern auch – wie schon im Fall des Goethe-Werks – der Suizid einer fiktiven Figur zur Nachahmung führen kann, bestätigte die sechsteilige ZDF-Miniserie Tod eines Schülers (1981) über den Abiturienten Claus Wagner (Till Topf), der sich vor einen fahrenden Zug wirft. In einer Studie stellte Armin Schmidtke, Vorsitzender des Nationalen Suizidpräventionsprogramms für Deutschland, damals fest, dass sich die Zahl der Jungen ähnlichen Alters, die auf vergleichbare Weise Suizid begingen, in der Zeit der TV-Ausstrahlung sowie in den fünf darauffolgenden Wochen verdreifachte.

Da Tote Mädchen lügen nicht den Suizid der Protagonistin drastisch und detailliert zeige, missachte die Produktion die internationalen Richtlinien der Suiziddarstellung, meint etwa der Sprecher des Berufsverbandes der Kinder- und Jugendärzte Josef Kahl – und fordert sogar ein Verbot der Serie. Miriam Wittemann, leitende Psychologin an der Klinik für Psychiatrie und Psychotherapie des saarländischen Universitätsklinikums, würdigt zwar die sensible Behandlung der Serie von einigen wichtigen Aspekten, kommt aber ebenfalls zu dem Schluss, dass die Serie vor allem durch die Suizidszene „so ziemlich alle Leitlinien, die es für den medialen Umgang mit solchen Themen gibt“, verletze. In besagter Passage wird einerseits via Voice-over des Mitschülers Clay (Dylan Minnette) und andererseits in Rückblenden-Bildern die Tat von Hannah (Katherine Langford) veranschaulicht – womit sich die von Brian Yorkey konzipierte Serie deutlich von dem gleichnamigen, zugrunde liegenden Roman von Jay Asher unterscheidet. In vielen Nah-, Groß- und Detailaufnahmen wird eingefangen, wie sich Hannah das Badewasser einlässt, wie sie eine Schachtel mit Rasierklingen öffnet, wie sie ein letztes Mal in den Spiegel sieht und wie sie sich schließlich in der Wanne sitzend die Pulsadern aufschneidet und verblutet, während das rot gefärbte Wasser über den Rand schwappt. Ebenso wird gezeigt, wie Hannahs Eltern (Kate Walsh und Brian d’Arcy James) den toten Körper ihrer Tochter finden.


(Bild aus Tote Mädchen lügen nicht; Copyright: Beth Dubber / Netflix)

In einem Artikel für Vanity Fair verteidigt Story Editor Nic Sheff, welcher einst selbst einen Suizidversuch unternahm, die explizite Visualisierung der Tat: Es sei die perfekte Gelegenheit, um zu demonstrieren, wie quälend ein Suizid tatsächlich sei, und um mit dem Mythos des stillen Abdriftens aufzuräumen. Die unverantwortlichste Sache wäre es seiner Ansicht nach gewesen, Hannahs Sterben nicht zu zeigen. Diese Ansicht erfährt vielfachen Widerspruch: „Jemand weiß nicht mehr weiter, und plötzlich kommt eine Möglichkeit in Sicht – egal, wie gewaltsam sie ist“, erklärt etwa Ulrich Hegerl, Direktor der Klinik und Poliklinik für Psychiatrie und Psychotherapie der Universität Leipzig. Auch Victor Schwartz, Direktor der Jed Foundation, hält es für eine schlechte Idee, „explicit, specific images of the suicide taking place“ zu zeigen. Miriam Wittemann merkt zudem an, dass die Gestaltung der Szene nicht die von Sheff beschriebene, abschreckende Wirkung habe: Statt Qualen und Schmerzen sehe man vielmehr, „wie Hannah mit aufgeschnittenen Pulsadern ihre Ruhe findet.

Neben der inszenatorischen Ebene werden auch narrative Elemente der Serie kritisiert. „She gained power through suicide, and that’s a dangerous message“, schreibt etwa Jaclyn Grimm in einer Kolumne auf USA Today über Hannah. Auch Miriam Wittemann kritisiert diesen Punkt. Aus den Berichten von Menschen, die Suizidversuche überlebten, lasse sich immer wieder die Sehnsucht heraushören, die vermeintlich am eigenen Unglück Schuldigen leiden zu lassen und diesen vor Augen zu führen, was sie einem zu Lebzeiten angetan haben. Da Hannah genau dies nach ihrem Tod durch ihre Kassetten in vieler Hinsicht gelingt, werde die Illusion erweckt, dass sich jene Erwartungen erfüllen können. Ebenso wird bemängelt, dass psychische Faktoren, die laut der School of Social Work der University of Washington in 90 Prozent aller Suizidfälle eine Rolle spielen, in der Serie nahezu gänzlich ausgeklammert werden und so der Eindruck entsteht, Suizid sei einzig auf äußere Gründe zurückzuführen – gleichwohl lasse sich der Serie nicht absprechen, dass sie diese äußeren Umstände (unter anderem die Objektifizierung junger Frauen in einem Umfeld der sexualisierten Gewalt) glaubhaft einfängt. Als weiterer Kritikpunkt wird genannt, dass Tote Mädchen lügen nicht in der finalen Episode der ersten Staffel die Botschaft vermittelt, es gäbe für Hannah keine Lösungen mehr. Als die Schülerin kurz vor ihrer Tat den Vertrauenslehrer Mr. Porter (Derek Luke) aufsucht, verhält dieser sich völlig unprofessionell und bietet keinerlei Unterstützung. „It looks like a dead end for someone who’s struggling, like, Oh yeah, that’s what happens when you go to a counselor. Which is not true“, meint Phyllis Alongi, klinische Direktorin der Society for the Prevention of Teen Suicide.


(Bild aus Tote Mädchen lügen nicht; Copyright: Beth Dubber / Netflix)

In einer Studie der San Diego State University wurde untersucht, welche Folgen die Veröffentlichung der Serie auf Google-Suchanfragen mit Suizid-Bezug hatte. In den drei Wochen nach Serienstart suchten Menschen im Internet 900.000 bis 1,5 Millionen Mal häufiger nach Informationen zum Thema Suizid als zuvor; darunter waren etliche konkrete Anfragen wie „Wie begeht man Selbstmord?“ oder „Wie bringt man sich um?“. Allerdings wurde auch wesentlich häufiger nach Schlagworten wie „Suizid Prävention“ oder „Suizid Hotline“ gesucht. Denkbar wäre also auch der sogenannte „Papageno-Effekt“ (nach der Figur Papageno aus Wolfgang Amadeus Mozarts Oper Die Zauberflöte): So kann eine bestimmte Form von medialer Suizid-Berichterstattung (oder -Darstellung) auch protektiv sein. Netflix hat inzwischen Triggerwarnungen vor einigen Episoden eingefügt; überdies wurde eine Website mit Kontaktdaten von Hilfsorganisationen eingerichtet. Im Netz sind zahlreiche Leitfäden und Listen mit talking points für den richtigen Umgang mit der Serie zu finden, zum Beispiel für die Schule oder für Familien. Die Serie kann Autoritätspersonen – Eltern und Lehrer_innen – Anlass dazu geben, mit Jugendlichen über Suizidgedanken sowie über Mobbing oder sexualisierte Gewalt zu sprechen, statt diese Themen zu Tabus zu machen.


(Trailer zu Tote Mädchen lügen nicht)

Es sollte nicht darum gehen, die Serie zu verbieten – oder auch das Reden darüber zu untersagen, wie dies laut Variety in einigen Schulen in Kanada geschah. Für ihren Artikel „Teens Explain What Adults Don’t Get About 13 Reasons Why“ sammelte die Autorin Anna Silman Statements junger Menschen. Neben kritischen Stimmen (die sich ebenfalls auf die visuelle Darstellung von Hannahs Tat oder auf die mangelnde Beleuchtung psychischer Gesichtspunkte beziehen) findet sich dort zum Beispiel auch die Aussage, dass die Serie das Highschool-Milieu sowie juvenile Gefühlswelten durchaus treffend einfängt: „Parents don’t realize what we go through“, meint etwa eine 18-jährige Schülerin aus Arizona. Die Serie kann somit für ältere Zuschauer_innen mit Kindern äußerst lehrreich sein. Ebenso sollten jedoch die Macher_innen von Tote Mädchen lügen nicht die erhobenen Einwände gegen die Erzähl- und Inszenierungsweise der ersten Staffel sehr ernst nehmen – eine zweite Staffel wurde bereits angekündigt. Etwas grundsätzlich nicht zu schildern oder nicht zu zeigen, kann nicht die Lösung sein – es muss nur ein verantwortlicher Umgang damit sowie ein zum Gespräch bereites Umfeld dafür gefunden beziehungsweise geschaffen werden.

Falls Sie selbst unter Stimmungsschwankungen, Depressionen und/oder Selbstmordgedanken leiden oder falls Sie jemanden kennen, der darunter leidet, können Sie bei der Telefonseelsorge Hilfe erhalten. Diese erreichen Sie telefonisch unter 0800/111-0-111 und 0800/111-0-222 sowie online auf www.telefonseelsorge.de. Die Beratung ist anonym und kostenfrei; Anrufe werden nicht auf der Telefonrechnung vermerkt.

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