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Bücher

Wie verfilmt man – Annie Ernaux?

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Gleich zwei Filme bringen derzeit das literarische Schaffen von Annie Ernaux auf die große Leinwand — mit unterschiedlichem Erfolg.

Meinungen
Filmstill zu Das Ereignis (2021) von Audrey Diwan
Das Ereignis (2021) von Audrey Diwan

Ich habe eine einfache Antwort auf die Frage, was eine gute Literaturverfilmung ausmacht: eine gute Literaturverfilmung liefert eine Interpretation eines Buches mit filmischen Mitteln. Dieser letzte Punkt ist dabei für mich entscheidend. Zwar heißt es sehr oft, diese*r Autor*in schreibe sehr „filmisch“ – in der Regel wird damit aber ein bestimmter Schreibstil bezeichnet: kurze Szenen mit tendenziell viel Handlung, dazu konkrete Beschreibungen. Dass das im Buch als „filmisch“ wahrgenommen wird, heißt aber nicht, dass es deshalb auch einfacher oder gut zu verfilmen sei. Es ist vielmehr ein Erzählen, das an das Erzählen in Filmen und Serien angelehnt ist.

Annie Ernaux ist nun eine Autorin, bei der wohl niemand von einem filmischen Erzählen sprechen würde. Sie schreibt autofiktionale Bücher, eng angelehnt an das Autorinnen-Ich, sehr subjektiv in der Perspektive. Zugleich sind ihre Bücher durchzogen von Reflexionen auch auf sprachlicher Ebene, von einem Ringen mit Sprache, mit Erzählhaltungen. Wie verfilmt man das? 

 

Ungesagtes zeigen

In Passion Simple ist diese Erzählhaltung nahezu aufgelöst: Man begleitet Hélène (Laetitia Dosch) bei ihrer Affäre mit Alexandre (Sergie Polunin). Sie ist französische Universitätsdozentin, er Security-Mann bei der russischen Botschaft. Sie ist alleinerziehende Mutter, er verheiratet; außerdem wird auch gesagt, er sei jünger als sie. Es gibt also Gegensätze zwischen ihnen – in Klasse, Herkunft, Alter – und sie verstricken sich in eine leidenschaftliche Affäre, die zunehmend zur Obsession wird. 

Diese Obsession äußert sich in Ernaux‘ gleichnamiger Erzählung vor allem in den Beschreibungen des Wartens auf ihn, des permanenten Denkens an ihn. Das ist schwierig zu verfilmen, zumindest in dieser Ausführlichkeit – daher gibt es sehr viel Sex zu sehen. Wiederum im Gegenteil zu Ernaux‘ Text, in dem er nur am Rande erwähnt wird. Das spricht dafür, dass hier darüber nachgedacht wurde, was im Film gezeigt werden kann – aber leider besteht zwischen Dosch und Polunin keinerlei Anziehung, kein Charisma, nicht der Hauch eines Funkens.

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Daran ändern auch Doschs Bemühen und das permanenten In-Szene-Setzen des Körpers von Ballett-Tänzer Polunin nichts. Indem der Text zudem die konkrete Ausgestaltung der Affäre weitgehend aufspart, entsteht eine Leerstelle, die beim Lesen selbst gefüllt wird – nach eigenen Vorstellungen. Diesen Raum gibt es in dieser Verfilmung nicht, dafür zu viele halbherzige Deutungsangebote wie eine nicht weiter verfolgte Anspielung auf Alain Resnais‘ und Marguerite Duras‘ Hiroshima, mon Amour. Dieses Werk spielt trotz einer gewissen Verwandtschaft zwischen Duras und Ernaux in ihrem Text keine Rolle. Natürlich ist gegen eine freie Verfilmung nichts einzuwenden, zumal es gerade bei Filmen über große erotische Anziehungskräfte einen Mangel an Werken von Regisseurinnen gibt – aber diesem Film gelingt es nicht, die Leidenschaft auf die Leinwand zu übertragen. 

 

Geschriebenes übertragen

In Annie Ernaux‘ Vorlage Passion simple gibt es eine Passage, in der das erzählende Ich die Notwendigkeit verspürt, den Ort aufzusuchen, an dem sie Jahre zuvor eine illegale Abtreibung hatte. Davon erzählt Ernaux in ihrem Buch Das Ereignis, das 2021 in der deutschen Übersetzung von Sonja Finck beim Suhrkamp Verlag erschienen ist – und von Audrey Diwan unter demselben Titel verfilmt wurde. Es ist ein Buch, das sehr schwierig zu verfilmen ist: aufgrund der Ich-Perspektive, aufgrund des Themas, aber auch aufgrund von Sätzen wie „Ich lebte nicht mehr in derselben Welt. Es gab die anderen Mädchen mit ihren leeren Bäuchen und mich.“ 

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Eine Verfilmung muss, ja, sollte nicht jeden Satz auf die Leinwand übertragen – aber das obige Zitat beschreibt eine zentrale Wahrnehmung der Protagonistin. Um diese in einen Film zu adaptieren, gibt es zunächst die – ich würden sagen: eher faule – Möglichkeit, sie Gedanken aus dem Off sprechen zu lassen. In Das Ereignis aber gelingt es Diwan, mithilfe der Inszenierung diese Wahrnehmung in den Film zu übersetzen. Die Kamera (Laurent Tangy) bleibt immer ganz nah an Anne (Anamaria Vartolomei). Die Bewegungen der Kamera stimmen mit Annes Bewegungen überein, sowohl hinsichtlich Richtung als auch Geschwindigkeiten und Eigenheiten in den Bewegungen sowie der Perspektiven. Dadurch wird eine große Subjektivität erzeugt, die mich zudem zu einer identifikatorischen Sichtweise fast zwingt. 

Das ist es, was gute Literaturverfilmungen ausmacht – und es gibt in Das Ereignis weitere Beispiele dafür:

„(Ich spüre, wie die Erzählung mich mitreißt und gegen meinen Willen einen Sinn erzeugt, den eines unaufhaltsam seinen Lauf nehmenden Unglücks. Ich zwinge mich, dem Drang zu widerstehen, durch die Tage und Wochen zu hasten, und versuche mit allen Mitteln – indem ich Details nachspüre, das Imperfekt verwende, die Geschehnisse analysiere – die endlose Langsamkeit einer Zeit wiederzugeben, die sich verdichtete, ohne voranzuschreiben, wie im Traum.)“ 

Auch dieser Satz ist wichtig für dieses Buch, immer wieder sind in Klammern diese Überlegungen eingeschoben, die die Kämpfe der Autorin bei der Niederschrift – oder der Erzählerin, die in diesem Fall nahezu identisch sind – ausdrücken. In dem Film nun ist dieses Tempo bzw. der Verzicht auf Tempo zu spüren. In der Sequenz, in der Anne auf dem Weg zu ihren Eltern an einem warmen Sonnentag ist, habe ich mich gefragt, wie viel Zeit wohl nun vergangen ist. Ihre Suche nach einer Abtreibungsmöglichkeit ist langsam, sie macht einen Großteil des Films aus. 

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Darüber hinaus löst der Film auch ein zentrales Anliegen des Buchs ein: „Es gibt keine minderwertige Wahrheit. Wenn ich diese Erfahrung nicht im Detail erzähle, trage ich dazu bei, die Lebenswirklichkeit von Frauen zu verschleiern und mache mich zur Komplizin der männlichen Herrschaft über die Welt“, konstatiert Ernaux in ihrem Buch. Und wie sie erzählt auch der Film im Detail und beschreibt, wie eine Abtreibung vonstatten geht. Dabei zeigen sich aber auch klare Unterschiede zwischen der Rezeption im Film und in der Literatur: Der Besuch beim Arzt, der ihr eine Östrogen-Spritze gibt und nach einem Jungen fragt, den er kennt und den Anne auch kennen könnte, wirkt im Film weitaus kälter und grausamer als im Buch. Zudem gibt es in einem Buch mehr Möglichkeiten zur Distanz, es ist eine andere Rezeptionshaltung, die dahinter steckt.

Dem Film bin ich unmittelbarer ausgeliefert – was angeblich dazu geführt hat, dass bei der Premiere in Venedig eine Frau ohnmächtig geworden ist und mehrere Leute den Saal verlassen haben, weil sie nicht sehen wollten, was Anne durchmacht. Das ist aus zwei Gründen erstaunlich: Zum einen ist die vollzogene Abtreibung im Buch noch krasser als im Film. Zum anderen reden wir von einem Medium, in dem alle möglichen Grausamkeiten oft genug sehr genau auf der Leinwand gezeigt werden. Hierin zeigt sich auch, wie verschiedenen der Umgang mit Körperlichkeiten ist – und welche anderen Maßstäbe offenbar im Hinblick auf den weiblichen Körper gelten. 

Annie Ernaux beschreibt diese Zeit in ihrem Leben als „gleichmäßig dahinfließendes Unglück“ und genau das sieht man im Film – aber eben auch, wie diese Zeit endet. Vor allem bemerkt man, dass sich Regisseurin Audrey Diwan, die mit Marcia Romano auch das Drehbuch geschrieben hat, mit der Vorlage und ihrer Intention auseinandergesetzt hat. Und das Ergebnis ist ein Film, in dem man das Buch von Annie Ernaux erkennt, ohne dass der Film ihm sklavisch folgt. Und genau das ist ein guter Weg, Annie Ernaux‘ Bücher zu verfilmen.

Annie Ernaux: Das Ereignis. Übersetzt von Sonja Finck. Suhrkamp 2021. 104 Seiten. 18 Euro.

Annie Ernaux: Eine vollkommene Leidenschaft. Übersetzt von Regina Maria Hartig. Goldmann 2004. Nur noch antiquarisch erhältlich. 

  • Michaela Coel: Misfits
    Michaela Coel: Misfits

    Schreiben über Serien

    Preisgekrönt und hochgelobt – Michaela Coels I May Destroy You ist eine mutige, eindrucksvolle Serie, die seit diesem Jahr u.a. bei Sky gestreamt werden kann. Sie basiert auf einer Gewalterfahrung, über die Coel 2018 in einem Vortrag gesprochen hat. Dieser Vortrag ist nun in ihrem Buch Misfits nachzulesen – und das Zusammenspiel von Buch und fiktionalisierter Serie liefert das Porträt einer eindrucksvollen, mutigen, inspirierenden und kreativen Frau. 

    Michaela Coel: Misfits. Übersetzt von Dominique Haensell. Ullstein Verlag 2022. 128 Seiten. 16,99 Euro. Als E-Book erhältlich.

  • Nicole Wolf (Hg.): Grenzfälle. Dokumentarische Praxis zwischen Film und Literatur bei Merle Kröger und Philip Scheffner
    Nicole Wolf (Hg.): Grenzfälle. Dokumentarische Praxis zwischen Film und Literatur bei Merle Kröger und Philip Scheffner

    Schreiben und Filmen

    Seit vielen Jahren arbeiten Merle Kröger und Philip Scheffner zusammen und ihr Werk durchzieht eine kontinuierliche Auseinandersetzung mit der politischen Vergangenheit und Gegenwart. Dieser Band versammelt Arbeitsgespräche, Archivtexte sowie Essays zum Schaffen von Kröger und Scheffner, das insbesondere durch die gleichzeitige Arbeit an Filmen und Büchern sowie dem Zusammenwirken von Fiktion und Realität gekennzeichnet ist. Sehr lesenswert! 

    Nicole Wolf (Hg.): Grenzfälle. Dokumentarische Praxis zwischen Film und Literatur bei Merle Kröger und Philip Scheffner. Vorwerk 8. 328 Seiten. 24 Euro. 

  • Dana Stevens: Camera Man. Buster Keaton, the Dawn of Cinema, and the Invention of the Twentieth Century
    Dana Stevens: Camera Man. Buster Keaton, the Dawn of Cinema, and the Invention of the Twentieth Century

    Hollywood-Mann I

    Dieses Buch von der Slate-Filmkritikerin Dana Stevens verbindet Biografie mit der kritischen Bewertung des Werks von Buster Keaton, um über seine Zeit im Kino zu schreiben. Dazu gehören interessante Beschreibungen von seinen Zeitgenossen sowie eine Auseinandersetzung mit der Technologie, dem Showbusiness und technologischen Veränderungen. Und noch dazu kann man etwas über die Grundlagen des filmischen Erzählens lernen. 

    Dana Stevens: Camera Man. Buster Keaton, the Dawn of Cinema, and the Invention of the Twentieth Century. Atria Books 2022. 432 Seiten. ca. 18,30 Euro.

  • Thomas Brandlmeier: Douglas Sirk und das ironisierte Melodram
    Thomas Brandlmeier: Douglas Sirk und das ironisierte Melodram

    Hollywood-Mann II

    Douglas Sirk hat in Deutschland am Theater gearbeitet, sich vor den Nazis zum Film zurückgezogen, Zarah Leander entdeckt, ist über Italien in die USA geflohen und hat dort eine zweite Karriere begonnen. Seither verbindet man mit ihm vor allem das Melodram – und erst spät wurde der künstlerische Wert dieses populären Genres entdeckt. Thomas Brandlmeier widmet sich in seinem Buch allen Filmen und schafft ein Grundlagenwerk zu dem Schaffen des Regisseurs. 

    Thomas Brandlmeier: Douglas Sirk und das ironisierte Melodram. edition text+kritik 2022. 222 Seiten. 20 Euro.

  • Thomas Assheuer, Michael Haneke (Hrsg.): Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer
    Thomas Assheuer, Michael Haneke (Hrsg.): Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer

    Geburtstagsbücher

    Am 23. März ist Michael Haneke 80 Jahre alt geworden – und deshalb sei an dieser Stelle noch einmal an zwei sehr lesenswerte Bücher erinnert, die von – und nicht zu(!) — ihm erschienen sind. In Nahaufnahme Michael Haneke führt Thomas Assheuer Gespräche mit Haneke – und redet über sein Leben und seine Karriere mit ihm. Und in Haneke über Haneke sprechen die Filmkritiker Michel Cieutat und Philippe Rouyer mit dem Regisseur über jeden seiner Filme bis 2013, dem Jahr, in dem das Buch erschienen ist. 

    Thomas Assheuer, Michael Haneke (Hrsg.): Nahaufnahme Michael Haneke. Gespräche mit Thomas Assheuer. Alexander Verlag 2013. 240 Seiten. 14,90 Euro.

    Michel Cieutat/Philippe Rouyer: Haneke über Haneke. Alexander Verlag 2013. 416 Seiten. 19,90 Euro.

  • Patricia Highsmith: Tiefe Wasser
    Patricia Highsmith: Tiefe Wasser

    Verfilmte Bücher 

    Im März ist nun endlich Adrian Lynes Verfilmung von Patricia Highsmiths Tiefe Wasser als Streamingfim zu sehen – und angesichts dieses Werks sei noch einmal an den Roman der Autorin erinnert: ein abgründiges, spannendes Buch über eine zutiefst unglückliche Ehe, eine Blaupause für Gone Girl und nachfolgende Geschichten – und mit einem Ende, das man nicht so schnell vergisst. 

    Patricia Highsmith: Tiefe Wasser. Übersetzt von Nikolaus Stingl. Diogenes 2020. 416 Seiten. 13 Euro.

  • Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit
    Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit

    Schreibende Schauspieler

    Ethan Hawke hat einen Roman geschrieben, der von einem Kinoschauspieler handelt, dessen Ehe mit einer weltberühmten Sängerin zerbricht, weil er ihr ihr untreu gewesen ist. Gleichzeitig spielt er am Theater in einer Inszenierung von Heinrich IV. – und diese Arbeit ist es, die ihn letztlich durch den Kampf mit sich selbst führt. Die biographischen Parallelen zwischen Hauptfigur und Autor sind offensichtlich – aber das ist nicht der einzige Reiz dieses Buchs, das auch von der Kraft des Theaters erzählt. 

    Ethan Hawke: Hell strahlt die Dunkelheit. Übersetzt von Kristian Lutze. Kiepenheuer & Witsch 2021. 336 Seiten. 23 Euro.

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