The Tribe (2014)

Eine Filmkritik von Patrick Holzapfel

Schonungslose Choreographien einer taubstummen Gewalt und Zärtlichkeit

Wenn man jemanden nicht verstehen kann, dann muss man sich immer die Frage stellen, ob es an der anderen Person liegt oder an einem selbst. Liegt es daran, dass ich nicht bereit bin mich mit der Sprache und Ausdrucksweise auseinanderzusetzen, liegt es an meiner Distanz zur Person oder kann mir diese Person wirklich nicht mitteilen, was sie denkt und fühlt?

The Tribe von Myroslav Slaboshpytskiy ist eine sprachlose Choreographie von Gewalt und Zärtlichkeit, die einen ebenso sprachlos zurücklässt. Der Debütfilm des ukrainischen Regisseurs spielt in einem Internat für taubstumme Menschen, in dem eine kriminelle Gang regiert und kommt komplett ohne Worte, jegliche Dialoge, Untertitel, Voice-Over oder sonstige sprachliche Hilfsmittel aus. Alles was wir sehen, ist die Zeichensprache, die Bewegungen und Gefühle der Protagonisten. Und dieses Konzept geht völlig auf.

Im Zentrum der Handlung steht ein Neuling auf dem heruntergekommenen Internat, der junge Sergey. Er ist eine verlorene Seele, der von der ersten Szene an scheinbar nur von einem pragmatischen Überlebenstrieb gesteuert wird. Sämtliche Figuren des Films verschwinden im Grau der Farben. Erst nach und nach entwickelt Sergey eigene Gefühle und Gedanken, die ihn jedoch zu fatalen Maßnahmen führen. The Tribe ist fast zwangsläufig auch ein Film über fehlende Kommunikation. Die Frage ist jedoch, ob diese tatsächlich mit der Tatsache zu tun hat, dass die Protagonisten nicht hören können oder vielmehr damit, dass wir ihnen nicht zuhören.

In einer bemerkenswerten Szene sind einige der Bewohner des Internats bei einem polizeilichen Verhör. Die Kamera bleibt dabei hinter dem Fenster, als könne sie selbst nicht mehr hören, als wären wir einfach nicht in der richtigen Position, um zu verstehen und sie studiert die bürokratische Teilnahmslosigkeit des Staates.

Ähnlich wie in Jacques Audiards Ein Prophet wird sich Sergey nach und nach in den illegalen Strukturen der Anstalt zwischen Raubüberfällen und Prostitution nach oben arbeiten. Dabei verliebt er sich in eine der Prostituierten. Die Rolle der prostituierten Frauen ist in ihrer schulterzuckenden Haltung gegenüber der Prostitution ebenso erschreckend wie die Schonungslosigkeit, mit der Slaboshpytskiy die Brutalität dieser Insel, die sich mitten in einer Gesellschaft befindet, portraitiert. Gewalt und Sexualität werden in einer Nacktheit präsentiert, die einem im ersten Fall das Blut in den Adern gefrieren lässt und im zweiten Fall die Wahrheit hinter diesen Menschen spüren lässt.

Dennoch hält der Regisseur sich mit jeglicher subjektiver Bewertung des Geschehens zurück. Der Film folgt schlicht den Dynamiken einer Welt, die man nicht beherrschen kann. Die Aufmerksamkeit, die er den Vorgängen gibt, beherbergt das politische Potenzial des Films. Denn in der Schonungslosigkeit dessen, was wir sehen, finden wir eine Aktivierung unseres Bewusstseins für die ungerechten sozialen Strukturen, die solche Ereignisse erst ermöglichen.

Meist aus einer gewissen Distanz beobachtet er mit langen Steadycam-Fahrten oder in statischen Plansequenzen die Handlungen. Es gibt kaum Nahaufnahmen, vielmehr gleichen die Rhythmen und Bewegungen des Films jenen eines klassischen Musicals. Seit Busby Berkeley hat niemand mehr Sozialrealismus derart gekonnt mit Bewegung (auch wenn es sich hierbei um deutlich minimalistischere Bewegung handelt) kombiniert. Immer wieder gehen größere Gruppen energischen Schrittes parallel zur sich bewegenden Kamera oder darauf zu. Die sozialen Dynamiken werden in diesen gewaltvollen Tänzen erschlossen, selbst Schlägereien und Sexszenen haben hier eine performative und musikalische Qualität. Nur ist da diese Stille…

Sie erdrückt einen nach und nach. Ein merkwürdiger Entfremdungseffekt stellt sich ein. Natürlich handelt es sich bei The Tribe nicht um einen Stummfilm. Die gedämpften Geräusche der Umgebung, zum Beispiel am Autobahnparkplatz, an dem die Prostituierten verkauft werden oder auch die verkrampften Töne von Schmerz und Lust, die leisen gedrängten Emotionen aus den Körpern der Figuren — wie immer in einem solchen Fall spielt der Ton sogar eine weitaus größere Rolle. Dennoch verzichtet der Film außer in wenigen Beispielen auf das Überstrapazieren seines Sound-Designs.

Die Spiralen von Gewalt und Gefühlen werden von Slaboshpytskiy mehr und mehr zusammengeführt und führen in mehrere Schläge in die Mägen der Zuseher. Ein wütender, sozialrealistischer Film, der die Hoffnungslosigkeit in Form und Inhalt einfließen lässt. In seiner brutalen Konsequenz diesbezüglich erinnert er unter anderem (auch wegen einer kaum auszuhaltenden und unfassbar präzise gefilmten Abtreibungsszene) an 4 Monate, 3 Wochen und 2 Tage von Cristian Mungiu oder Irreversibel von Gaspar Noé.

Es versteht sich fast von selbst, dass der Cast komplett aus tatsächlich taubstummen Schauspielern und Laien besteht. Die Bewegungen und Kommunikation wirken auch deshalb so natürlich. Immer wieder ertappt man sich dabei, wie man versucht, die Zeichensprache zu verstehen. Besonders faszinierend ist, wie abhängig eine solche Kommunikation vom Blick ist. Immer wieder schauen sich die Figuren nicht an und bekommen daher erst spät oder gar nicht mit, was passiert.

Unter all dem steckt die Hilflosigkeit von Sergey. The Tribe ist eine übersteigerte Betrachtung der zwanghaften Dynamiken von sozialer, pubertärer und psychologischer Unterdrückung. Dabei tauchen Momente ungeheurer Menschlichkeit und Sanftheit auf, als Sergey völlig unbeholfen versucht, sich einer Frau zu nähern. Er bezahlt sie für Sex, aber dann liebt er sie.

Auch diese Szenen spielt Slaboshpytskiy in all ihrer Länge und unbeholfenen Zuneigung auf. Es ist diese eine Liebe, die dieser Welt nicht gestattet ist, die von den Figuren selbst nicht als Möglichkeit in Betracht gezogen wird. Es sind aufblitzende Funken, kurze Augenblicke der Unendlichkeit und des möglichen Lebens, die dann umso heftiger verschwinden. Natürlich ist dies eine besonders eingeengte Perspektive, aber der Regisseur macht keineswegs Anstalten, hier politisch fragwürdige, allgemeine Aussagen über das Leben von Taubstummen zu treffen. Vielmehr ist es ein Hilfeschrei. Warum kann so etwas passieren? Warum sieht und hört das niemand?
 

The Tribe (2014)

Wenn man jemanden nicht verstehen kann, dann muss man sich immer die Frage stellen, ob es an der anderen Person liegt oder an einem selbst. Liegt es daran, dass ich nicht bereit bin mich mit der Sprache und Ausdrucksweise auseinanderzusetzen, liegt es an meiner Distanz zur Person oder kann mir diese Person wirklich nicht mitteilen, was sie denkt und fühlt?

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Meinungen

Ollie · 19.10.2015

Taubstumm? Fehler! Gehörlos oder taub. Nicht ''Stumm''