Still Alice - Mein Leben ohne Gestern

Eine Filmkritik von Sonja Hartl

Der Verlust des Ichs

„The art of losing isn’t hard to master; / so many things seem filled with the intent / to be lost that their loss is no disaster. // Lose something every day / Accept the fluster / of lost door keys, the hour badly spent / The art of losing isn’t hard to master.“ Dieses Gedicht von Elizabeth Bishop zitiert Alice Howland (Julianne Moore) bei einem Vortrag über ihre Erkrankung. Sie ist 50 Jahre alt, renommierte Linguistin, verheiratet, hat drei erwachsene Kinder – und vor kurzem erfahren, dass sie unter einer seltenen, besonders schnell verlaufenden, vererbbaren Form von Alzheimer leidet. Sie ist eine Frau, die sich selbst vor allem über ihren Intellekt und ihre Sprache definiert hat und von anderen dafür bewundert wurde. Beides verliert sie durch ihre Krankheit und hofft, sich wenigstens in der Kunst des Verlierens zu beweisen.
In ihrem Film Still Alice konzentrieren sich die Drehbuchautoren und Regisseure Richard Glatzer und Wash Westmoreland insbesondere auf die Krankheitserfahrung ihrer Hauptfigur Alice, die von der jüngst oscarprämierten Julianne Moore eindrucksvoll verkörpert wird. Anfangs ist sie in ihrem Alltag zu sehen, sie hält einen Vortrag über frühkindlichen Spracherwerb und hat nur einen kurzen Aussetzer, den sie mit einem Witz überspielt. Jedoch häufen sich diese Momente, in denen sie nicht weiß, was sie sagen wollte oder wo sie ist. Also sucht sie einen Arzt auf und erhält nach einigen Tests die Diagnose Alzheimer. Zügig wird dieser Handlungsschritt beschrieben, danach widmen sich Richard Glatzer und Wash Westmoreland den Folgen der Diagnose für eine Frau, in deren Lebenszentrum Worte standen. Alice ist bemüht, rational zu handeln und alles richtig zu machen, jedoch verliert sie sich selbst und ihr Leben immer mehr. Plötzlich steht nicht mehr die Arbeit im Mittelpunkt – die Veränderung, die ihrem Mann John (Alec Baldwin) am meisten zu schaffen macht – und sie hat Zeit, die sie aber nicht nutzen kann. Sie traut sich nicht mehr zu Dinner Partys, wünscht sich, sie hätte Krebs, da dann die soziale Stigmatisierung geringer wäre. Ihre Krankheit wäre ihr anzusehen, während sie nun äußerlich völlig intakt mit der Zersetzung des Geistes zurechtkommen muss.

Dabei lässt Julianne Moore durch ihre Mimik und Gestik diese Veränderungen spürbar werden, sie wird im Verlauf des Films zu einer anderen Frau. Sehr deutlich wird es in der Szene, in der Alice sich das Video anguckt, das sie zu Beginn ihrer Krankheit aufgenommen hat. Damals hat sie beschlossen, dass sie ihrem Leben in einem bestimmten Stadium selbst ein Ende setzen will. Dazu hat sie drei Fragen in ihrem Telefon mit dem Hinweis gespeichert, sobald sie diese nicht mehr beantworten könne, ein Video abzuspielen, in dem sie sich selbst Anweisungen für eine Tablettenüberdosis gibt. Es scheint bezeichnend für die tückische Krankheit, dass sie in der Phase, in der sie diese Handlung noch ausführen könnte, ihr Telefon verliert. Als sie dann zufällig dieses Video entdeckt, ist sie nicht mehr in der Lage, die nötigen Handlungen vorzunehmen – und für den Zuschauer werden die Unterschiede zwischen der gesunden und kranken Alice, die Veränderungen, nochmals deutlich.

Darüber hinaus ist der Verlust des Telefons auch ein dramaturgisches Mittel, um den weiteren Verlauf der Krankheit zu schildern. Alice verliert immer mehr die Bindung zu ihrem Mann und ihren Kindern (Kate Bosworth, Shane McRae) – einzig ihre jüngste Tochter Lydia, zu der sie zuvor ein schwieriges Verhältnis hatte, scheint der Krankheit standzuhalten. Nur ihr gelingt es, die Veränderungen ihrer Mutter zu akzeptieren. Lydia wird gespielt von Kristen Stewart, die hier abermals Talent zeigt. Sie nutzt die Krankheit, um sich ihrer Mutter noch einmal nahe zu fühlen, obwohl diese sie nicht mehr erkennt.

Neben den guten Schauspielerinnen verdeutlicht insbesondere die Kamera Alice‘ Entwicklung. Die Bilder vermitteln den einsetzenden Kontrollverlust und die zunehmende Orientierungslosigkeit vor allem durch Unschärfen – mal im gesamten Bild, mal nur an den Rändern. Darüber hinaus wird beständig Alice in den Mittelpunkt des Bildes gesetzt. Bei den neurologischen Tests ist nur sie zu sehen, später wird sie isoliert von ihrer Familie allein auf einem Sofa sitzen, während sie am Esstisch über Alice‘ Zukunft sprechen. Plötzlich macht Alice ein Geräusch, alle blicken auf sie, doch Alice scheint völlig selbstvergessen zu sein. Hier wird deutlich, dass sie Alice gleichermaßen ist und nicht mehr ist.

Durch die starke Konzentration auf Alice und den Krankheitsverlauf gehen die Folgen für ihre Familie etwas verloren, zumal ihre Kinder und ihr Mann als Nebenfiguren blass bleiben. Hier wäre eine noch stärkere Unterwerfung unter Alice‘ Perspektive reizvoll gewesen, die auch die hässlichen Seiten der Erkrankung nicht ausspart. Stattdessen erzählt der Film aber vor allem von dem Verlust des Gedächtnisses und Alice‘ zunehmender Isolation und setzt dadurch auf die Tragik ihrer Krankheit. Daher ist Still Alice ein konventionelles, aber vor allem dank der Hauptdarstellerin auch sehr bewegendes Drama.

Still Alice - Mein Leben ohne Gestern

„The art of losing isn’t hard to master; / so many things seem filled with the intent / to be lost that their loss is no disaster. // Lose something every day / Accept the fluster / of lost door keys, the hour badly spent / The art of losing isn’t hard to master.“ Dieses Gedicht von Elizabeth Bishop zitiert Alice Howland (Julianne Moore) bei einem Vortrag über ihre Erkrankung.
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Meinungen

Martin Zopick · 05.08.2023

Was für ein wunderbarer Titel für einen wunderbaren Film. Natürlich ist Alice ‘immer noch‘ Alice. Sie ist immer noch da, aber wie? In was für einem Zustand lebt sie? Die Regisseure Glatzer (†) und Westmoreland zeigen den graduellen physischen und psychischen Verfall eines Menschen. Sie gehen fast dokumentarisch ans Werk, ohne den üblichen Schmus, der sonst um dieses Thema gemacht wird. Dabei geht es natürlich nicht ohne Emotionen ab. Doch die sind so dezent gesetzt, mal mit entwaffnender Ehrlichkeit, dann wieder mit liebevoller Hilflosigkeit, auch mal kantig oder sexy, dass die Rührung steigt, bis die Träne quillt. Besonders bewegend, wenn in klaren Schüben, Alice die Erkenntnis kommt über den Verlust der geistigen Kapazität.
Erst fehlen nur Begriffe im Vokabular, dann kommt es zu motorischen Störungen, schließlich gibt es Orientierungsschwierigkeiten und in der Endphase nur noch fast unverständliche Laute. Das letzte Wort von Alice ist ‘LIEBE‘. Und so findet der Film auch noch einen genialen Schluss.
Julianne Moore in eine ihrer größten Rollen, als Mutter, Ehefrau und Wissenschaftlerin. Sie rührt buchstäblich die besagten Steine zu Tränen. Aber auch John (Alec Baldwin) – erst in letzter Zeit in diesem Genre anzutreffen – schafft den Spagat zwischen Karriere (Leben geht weiter!) und liebevollem Ehemann. Manchem mag er nicht liebevoll genug sein. Die Kinder sind gut in Szene gesetzt, ihre Probleme passend in die Handlung eingebaut. Dieses ‘natürliche Umfeld‘ hält auch in gewisser Weise die Emotionen in Schach und umrahmt einen ganz großen Film, mit einer ganz großen Hauptdarstellerin (Oscar!).

Una · 14.03.2015

Ich habe das Buch gelesen, es ist eine tolle Geschichte. Sehr emotional und regt zum nachdenken an. Kinokarten habe ich bereits und freue mich Julianne Moore in dieser Rolle zu sehen. Der Trailer ist schon sehr vielversprechend.
BG