Ida

Eine Filmkritik von Verena Schmöller

Sex, Drinks and Jazz: Eine Novizin auf Reisen

Mit Ida hat Pawel Pawlikowski einen wunderbaren Film gedreht: In Schwarzweiß, in festen, langen Einstellungen und künstlerischen Bildern. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Novizin Anfang der 1960er Jahre in Polen, die sich kurz vor Ihrem Ordensgelübde auf eine Reise in ihre familiäre Vergangenheit begibt und ganz nebenbei das weltliche Leben kennenlernt.
Polen im Jahr 1962. Die junge Novizin Anna (Agata Trzebuchowska) steht kurz davor, ihr Gelübde abzulegen, als die Oberin ihr anordnet, zuerst ihre Tante und einzige lebende Verwandte Wanda zu besuchen. Anna wurde von den Nonnen im Kloster groß gezogen und betritt mit dieser Reise, so scheint es, das allererste Mal die Welt außerhalb der Klostermauern. Wanda (Agata Kuklesza) begrüßt sie nicht gerade erfreut, nimmt sich dann jedoch der jungen Frau an und erzählt ihr aus ihrer Vergangenheit: Sie sei Jüdin, ihr richtiger Name sei Ida Lebenstein, und ihre Eltern seien getötet worden.

Die beiden machen sich auf den Weg, mehr über den Tod von Idas Eltern und Wandas geliebter Schwester Róża zu erfahren. Unterwegs nehmen sie einen jungen Musiker (Dawid Ogrodnik) in ihrem Wagen mit, dem sie immer wieder begegnen werden. Er spielt Saxophon in einer Jazz-Band und jeden Abend in einem anderen Ort, lädt sie ein und bietet den beiden Frauen damit stets einen abendlichen Fluchtpunkt nach den Ereignissen während ihrer Suche am Tag. Die unterschiedlichen Musikstücke — seien es die verschiedenen Jazz-Stile, der Samba oder die klassische Musik, wobei letztere meist auf Wandas Schallplattenspieler gespielt werden — prägen den Film entscheidend. Sie sind maßgeblich für die jeweilige Stimmung, jedoch nicht zu aufdringlich, wie dies immer wieder bei konventioneller Filmmusik der Fall ist, sondern stimmig in die Handlung integriert.

Der Saxophonist zeigt offen sein Interesse an Ida, doch es braucht erst weitere Ereignisse, die Ida schlussendlich in seine Arme treiben und sie überhaupt das Leben kosten lassen, das ihre Tante führt: Ein lustvolles, aus den Augen einer angehenden Nonne wohl lasterhaftes Leben mit vielen Drinks, Spaß am Ausgehen und kurzen Affären. Auf ihrer Reise durch die polnische Provinz lernen Ida und Wanda nicht nur einander, sondern auch sich selbst kennen; sie entdecken, wer sie sind und wo sie hingehören. Sie fragen nach ihren Glaubensgrundsätzen, ihren Lebenseinstellungen und ihren Idealen, die bisher ihr Leben bestimmt haben. Somit ist Ida vor allem auch ein Film über Identität(en). Die schrecklichen Ereignisse um Idas Eltern erscheinen da nur als Beiwerk, und sind doch wichtig für den Film — spricht er damit ein nationales Tabu, den Antisemitismus in Polen, an, der bis heute eine kontroverse Debatte im Land ist.

Ida ist außerdem und vor allem ein hochkünstlerischer Film. Jede Einstellung scheint sorgfältig gewählt zu sein, ist ein visuelles Kunstwerk, was auch mit der Wahl des Schwarzweißfilms und der starken Kontrastierung der Einstellungen zusammenhängen mag. Der Film nimmt sich Zeit für seine starren Einstellungen — wohl auch deshalb wirkt er stellenweise wie eine Aneinanderreihung von Bildern. Ida erinnert an die Nouvelle Vague, in einigen Einstellungen fast an experimentelles Kino, aber auch an den polnischen Nachkriegsfilm — er spielt also nicht nur in den 1960er Jahren, sondern ist eine Hommage an das Kino jener Zeit. Ein Film, wie er selten geworden ist in den deutschen Kinos: kunstvoll, ein wenig spröde, aber überaus zärtlich und gewaltig.

Ida

Mit „Ida“ hat Pawel Pawlikowski einen wunderbaren Film gedreht: In Schwarzweiß, in festen, langen Einstellungen und künstlerischen Bildern. Der Film erzählt die Geschichte einer jungen Novizin Anfang der 1960er Jahre in Polen, die sich kurz vor Ihrem Ordensgelübde auf eine Reise in ihre familiäre Vergangenheit begibt und ganz nebenbei das weltliche Leben kennenlernt.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen

Martin Zopick · 19.10.2023

Die Ausgangssituation könnte unterschiedlicher nicht sein: die Novizin Ida (Agata Trzebuchowska) und ihre Tante Wanda (Agata Kulesza), eine versoffene Hure, machen sich auf, um das Grab von Idas Eltern zu finden. In stringenten s/w Bildern erzählt Regisseur Paweł Pawlikowski dieses Roadmovie, das in den 60er Jahren in Polen spielt. Lange Einstellungen und längere wortlose ruhige Passagen brennen den Film in die Seele der Zuschauer. Vor allem gegen Ende, wenn die Dialoge immer seltener werden, bevor sie völlig verschwinden, graben sich die Bilder besonders tief in die Erinnerung.
Hinzukommt dass im Verlauf des Films immer neue brisante Details über die beiden Frauen auftauchen. Tante Wanda hat eine stalinistische Vergangenheit als Richterin und Ida heißt eigentlich Anna und ist Jüdin.
Es ist letztlich auch eine Auseinandersetzung von Polens Umgang mit seiner Geschichte, der nicht jedem gefällt. Hierbei spielt der Glaube ja auch eine wichtige Rolle.
Vor allem die finale Entscheidung der beiden Frauen überrascht und beeindruckt zutiefst. Wandas nicht vorhersehbarer Abgang mit Klassik unterlegt wird durch ein Staatsbegräbnis der Partei ironisch überhöht und Ida/Anna versucht vorübergehend Wandas Lebensgewohnheiten nachzuvollziehen. Sie schlüpft buchstäblich in Wandas Schuhe und Kleider. So kann sie später einmal sagen, sie weiß, vorauf sie verzichtet hat.
Agata Trzebuchowska gibt dem Film ein Gesicht: stets den Blick gesenkt und wortkarg. Diese Newcomerin wirkt in ihrer madonnenhaften Schönheit unheimlich authentisch. Der Auslands Oscar ist wirklich verdient.
Ein Frauenfilm mit emanzipatorischen Aspekten der auch Verantwortung für die Vergangenheit übernimmt. Ein seltenes Juwel.