Ich wünsche dir ein schönes Leben

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Verspannungen, körperlich und seelisch

Elisa (Céline Sallette) ist Physiotherapeutin. Und etwas nagt an ihr: Damals, Anfang der 1980er, wurde sie gleich nach der anonymen Geburt zur Adoption freigegeben, sie weiß nicht, wer ihre Mutter ist. Nun hat sie selbst einen zehnjährigen Sohn, doch ihre eigene Herkunft erfährt sie nicht. Also ist sie glücklich, als sie nach Dünkirchen ziehen kann, ihren Geburtsort. Dort arbeitet sie in einer Praxis, ihr Sohn muss an der Schule neu anfangen. Und Annette (Anne Benoît), ihre Mutter, gibt sich ihr nach wie vor nicht zu erkennen. Es ist nie ein Rätsel in Ounie Lecomtes Ich wünsche dir ein schönes Leben, wer die Mutter ist, alle Karten liegen auf dem Tisch. Doch eine tiefe emotionale Spannung trägt den Film – und die multiperspektivische Erzählweise macht ihn vielschichtiger, als eine bloße Inhaltsangabe zu vermitteln vermag.
Ein Schnitt gleich am Anfang, wir springen vom Familienamt nach Dünkirchen. Von der erneuten Ablehnung von Elisas Antrag, die leibliche Mutter kennenzulernen, zu Annette, Ende 50, die noch immer mit ihrer Mutter wohnt, die ein kleines, bescheidenes Leben führt. Der Zusammenhang ist klar. Und die Konstellation auch, zumal, als Annette mit ihrem Zehnjährigen Noah hierherzieht, wo an Noahs Schule Annette als Hilfskraft arbeitet. Die dann auch wegen eines Rückenleidens die Praxis aufsucht, in der Elisa arbeitet.

Mit größtem Einfühlungsvermögen ist das erzählt, mit größter Zurückhaltung; und mit größter Kunstfertigkeit, denn die Regisseurin nimmt ihre Protagonisten wechselweise in den Focus, erzählt von Elisa, ihrer anonymen Mutter, ihrem Sohn, Geschichten von Verlorenheit und Verhärmtheit und dem Versuch, anzukommen in der neuen Stadt. Sie kreisen umeinander, sie kreisen um sich selbst. Elisa hat ihr ganzes Dasein auf diesen einen wunden Punkt in ihrem Leben konzentriert – mehr und mehr erleben wir ihr Innenleben, das so verkorkst ist, so auf diese eine Frage ausgerichtet: Ein Leben in Scheuklappen, aufgesetzt bei der anonymen Geburt. Annette erwartet vom Leben nichts mehr, und das seit langem schon; sie lebt in der Routine, ist glücklich, wenn die Schüler um sie herumwuseln, erträgt es, wenn diese sie ohne jeden Respekt hänseln. Noah sieht mit dunklerer Hautfarbe und schwarzem Lockenhaar irgendwie arabisch aus, von seinen Eltern hat er das nicht. Er schließt sich den Schulrabauken an, da fühlt er Gemeinschaft, die er mit seiner Mutter nicht mehr haben kann – er wird älter. Und die Mutter immer fixierter auf sich selbst.

Noah hat in der Schulmensa zunächst keine Essensmarke, Schweinefleisch wird ihm vorsichtshalber vorenthalten – eine Art positives „racial profiling“; während Annettes Mutter sie auf dem Markt von fröhlich tanzenden Nordafrikanerinnen wegzieht, man kann nie wissen – wohlgemerkt: Annette ist Mitte, Ende 50! Es sind große mentale Zerwürfnisse zu spüren in diesem Film, seelische Verwundungen, Narben der Vergangenheit, die weit über die persönlichen Probleme der drei Hauptfiguren hinausgehen. Elisa dehnt die Gliedmaßen, massiert die Muskeln, übt die Atmung, um Zerrungen, Beklemmungen, Verrenkungen zu lösen – doch die eigenen inneren Verspannungen und Verdrehungen kann sie nicht heilen, geschweige denn die ihres Sohnes, der neue Freunde in der neuen Stadt suchen muss. Verständnis für ihre Mutter und für deren Familie kann sie sowieso nicht aufbringen, die Nöte vor über 30 Jahren, die zur Trennung im Kindsbett führten …

Sie nähern sich an, das ist unausweichlich. Vielleicht intuitiv, genetisch erkennen sie sich; zumal Noah bei Annette tief vergrabene, verdrängte Erinnerungen an früher, an diese eine große Liebe in ihrem Leben aufrührt. Es ist ein Film über Mutterschaft, durch und durch – verdrängte und erwünschte, ersehnte und verborgene, verleugnete und verweigerte, auch übertriebene, überstülpende, übertölpelnde … und das so durchdringend, so intensiv … Nur eine kleine Abtreibungs-Nebenhandlung, die in zwei, drei Szenen erzählt wird, die ist dann doch zu viel, zu viel des „Geschichte wiederholt sich“-Themas – hier hilft nur der eingebaute Schneidetisch im Kopf des Zuschauers.

Beim ersten Besuch in der Praxis behandelt Elisa Annette wegen einer Rückenzerrung, schließlich biegt sie Annette in Embryonalhaltung, dreht sie zu sich, drückt sie an ihren Körper – das Bild der liebenden, schützenden, zärtlichen Mutter umgekehrt, ohne dass es jemand ahnen würde, ein Pietá-Bild von ungeahnter Traurigkeit, ein Bild von so tiefer Bedeutung, aufgeladen mit so vielem, was bewusst und unbewusst abläuft … Ich wünsche dir ein schönes Leben heißt im Original direkt übersetzt „Ich wünsche dir, verrückt geliebt zu werden“ – die verrückte Liebe, die amour fou, das ist hier die zwischen Mutter und Kind – der Titel bezieht sich auf André Bretons L’Amour fou, das am Ende des Films, wie aus dem Nichts, von einem Voice Over rezitiert wird, ein Brief an die zukünftige Tochter, voll überwältigender Liebe, die gewünscht wird für sich und für andere …

Ich wünsche dir ein schönes Leben

Elisa (Céline Sallette) ist Physiotherapeutin. Und etwas nagt an ihr: Damals, Anfang der 1980er, wurde sie gleich nach der anonymen Geburt zur Adoption freigegeben, sie weiß nicht, wer ihre Mutter ist. Nun hat sie selbst einen zehnjährigen Sohn, doch ihre eigene Herkunft erfährt sie nicht.
  • Trailer
  • Bilder

Meinungen