Chance 2000 - Abschied von Deutschland

Eine Filmkritik von Harald Mühlbeyer

Qual der Wahl

Deutschland war politisch im Aufruhr. 16 Jahre thronte Helmut Kohl inzwischen auf dem deutschen Thron, Gerhard Schröder rüttelte daran und Christoph Schlingensief versuchte, kräftig mitzumischen beim Wahlkampfzirkus. Tatsächlich gab es ein Zirkuszelt bei der Volksbühne Berlin, von dort aus gründete Schlingensief seine Partei „Chance 2000“, die dann bis September Wahlkampf betrieb, irgendwo zwischen Kunst und Realität und zwischen Quatsch, Krampf und Satire. Chance 2000 – Abschied von Deutschland montiert Videomaterial von damals zu einer Chronologie der Ereignisse, ohne nachträgliche Interviews oder Kommentare; Kathrin Krottenthaler und Frieder Schlaich als Montage-Regisseure stellten dieses Material zusammen. Ganz nach Schlingensiefs Motto „Scheitern als Chance“.
19 Jahre ist das jetzt schon her. Helmut Kohl ist tot; Christoph Schlingensief auch. Damals im Jahr 1998 war meine erste bewusste Begegnung mit Schlingensief, in irgendeiner Talkshow saß er und schwafelte über Politik, Selbstbewusstsein und seine selbstgegründete Partei, und das Ganze war mir instinktiv erstmal unangenehm. Schlingensief erschien selbstgefällig und eitel, und was er sagte, war ein Nichts in großem Geschwurbel. Nach vielen Jahren Schlingensief-Beschäftigung ist mir inzwischen natürlich klar, was meinem jungen Ich noch schleierhaft war: Dies alles war Teil der großen Show, eine Bloßstellungsmaschinerie, ein Kunst-im-Leben-Projekt, zu dem Schlingensiefs schwiegermuttergefälliger Charme ebenso beizutragen hatte wie die letztendliche Inhaltslosigkeit mit dem bloßen Anspruch, sich selbst nicht aus den Augen zu verlieren. Ganz konkret war mir wenige Wochen nach dem Talkshowauftritt Schlingensief schon wieder hochsympathisch: Seine Aktion, sechs Millionen Arbeitslose zu einem gemeinsamen Bad im Wolfgangsee einzuladen, um mit dem ansteigenden Wasserspiegel Helmut Kohls dortiges Ferienhaus unter Wasser zu setzen, war halt schon eine grandiose Idee.

Klar hat das Parteiprojekt „Chance 2000“ etwas Erfrischendes an sich. Und vor allem etwas Erhellendes: Weil hier, wie von Schlingensief in Zusammenarbeit mit Carl Hegemann immer wieder ausprobiert, die Kunst, das Theater tatsächlich ins Wirkliche hinüberreicht, dahin, wo man nicht mit ihr rechnet. Es geht inhaltlich um die Selbstermächtigung, sich jenseits von Ideologien auch in der Politik als einzelner Mensch wiederzufinden: Jeder, der will, kann sich unter der „Chance 2000“-Flagge als Direktkandidat für die Bundestagwahl aufstellen lassen, „Wähle dich selbst“ ist der Slogan dazu, und hintergründig wird der gesamten Politinszenierung der großen Parteien die Schlingensiefinszenierung entgegengesetzt. Schlingensiefs Ensemble der fröhlichen Behinderten ist ebenso dabei wie Bernhard Schütz, auf einem der ersten Plätze der Landesliste Berlin; Martin Wuttke schwimmt im Wolfgangsee mit; Tom Tykwer sitzt auch mal auf einem Podium, einfach so.

Krottenthaler und Schlaich arbeiten sich Stück für Stück an der „Chance 2000“ ab und über eine Stunde will es nicht recht in Gang kommen. Denn: Schlingensief ist eigentlich ein toller, satirischer, anarchischer Komiker, der aus dem Nichts seine assoziativen Stegreifreden und seine ausgelassenen Chaosaktionen in die Welt hinausstoßen kann – hier aber, nach vielversprechendem Wahlzirkusauftakt, versinkt er in den eben tatsächlich notwendigen Formularen und Formalitäten einer Parteigründung, und das ist im Leben wie in diesem Film schlicht langweilig. Parteiname, Satzungen, Landesliste und Spitzenkandidat müssen abgestimmt, Unterschriften gesammelt werden, immer wieder und wieder hört man Schlingensief an verschiedenen Tagen und verschiedenen Orten dasselbe sagen – bis er bekennt, wie innerlich leer er ist. Das ist der Moment, in dem der Leerlauf des Films seinen Höhepunkt erreicht – danach geht es wieder voran, weil Christoph auf Tour ist, Wahlkampfreise durch Deutschland, und hier wird es wieder lustig und abwechslungsreich.

Das (partielle) Scheitern des Films liegt daran, alles richtig wiedergeben zu wollen: Er ist Teil der (lobenswerten) Schlingensief-Philologie, die die Filmgalerie 451 mit diversen DVD-Editionen betreibt, in denen Schlingensiefs Filme und Inszenierungen mit viel analytischem Bonusmaterial veröffentlicht werden. Chance 2000 – Abschied von Deutschland aber ist eingeklemmt in der Präsentation des schlingensiefschen Wahn-/Wahlsinns und einer quellentreuen Gesamtausgabe. Die Monteure von heute hätten lieber frei das Material zu einer dichten Form bringen sollen, statt lange das Unterschriftensammeln auf dem Alexanderplatz zu zeigen – Schlingensief hat sich ja auch nie um die wirkliche Wirklichkeit gekümmert, sondern um das, was er aus ihr heraustranszendieren konnte.

Wenn nicht alles akkurat akribisch wäre an diesem Film – er wäre erstens kürzer gewesen. Und hätte zweitens vielleicht auch noch Platz gefunden für eine Aktion, die Schlingensiefs Wolfgangsee-Aktion noch metamäßig toppen konnte: Die APPD nämlich, die Anarchistische Pogo Partei Deutschlands, hat damals auch ein paar Hanseln nach St. Gilgen geschickt, um Schlingensief und Co. unterstützend beizuspringen – indem sie in den See pissten.

Chance 2000 - Abschied von Deutschland

Deutschland war politisch im Aufruhr. 16 Jahre thronte Helmut Kohl inzwischen auf dem deutschen Thron, Gerhard Schröder rüttelte daran und Christoph Schlingensief versuchte, kräftig mitzumischen beim Wahlkampfzirkus. Tatsächlich gab es ein Zirkuszelt bei der Volksbühne Berlin, von dort aus gründete Schlingensief seine Partei „Chance 2000“, die dann bis September Wahlkampf betrieb, irgendwo zwischen Kunst und Realität und zwischen Quatsch, Krampf und Satire.
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