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Der Polizist Vasyl Pipa half 2022 bei der Evakuierung der ostukrainischen Stadt Marinka. Aus den Aufnahmen seiner GoPro ist ein Film entstanden, der mitten hineinführt in die Zerstörung und das Leid durch die russische Invasion.

White Angel – Das Ende von Marinka (2023)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Mittendrin im Krieg

Das Erste, was die Kamera in „White Angel – Das Ende von Marinka“ einfängt, ist die Kalaschnikow auf dem Beifahrersitz von Vasyl Pipa. Sofort ist klar: Wir befinden uns im Krieg. In einem Krieg, der bereits seit fast zehn Jahren tobt und den die russische Staatsführung im Frühjahr 2022 mit dem Überfall auf die Ukraine nochmal auf eine neue Stufe hob. Der seitdem den Alltag und die Schlagzeilen bestimmt. Und der freilich auch nicht am Dokumentarfilm vorbeigeht. Mit „White Angel“, der das DOK Leipzig 2023 eröffnet hat, erscheint nun ein weiterer Beitrag – ein herausragend guter.

Federführend für White Angel ist der 1972 in Brandenburg geborene Investigativjournalist Arndt Ginzel. Das Material jedoch stammt zum allergrößten Teil von Vasyl Pipa, Polizist in der ukrainischen Kleinstadt Marinka am westlichen Rand von Donezk. Gemeinsam mit seinem Kollegen Rustam, einem muskulösen Hünen mit sympathischem Lächeln, hilft er nach Beginn der russischen Invasion bei der Evakuierung des 10.000-Seelen-Ortes. In einem schlichten weißen Transporter pendeln sie mehrmals täglich zwischen Marinka, das unter russischem Beschuss steht, und einer sicheren Zone westlich davon hin und her. Das Fahrzeug erhält von den Menschen in Marinka bald den Namen „Weißer Engel“.

Mit der GoPro-Kamera am Kragen hat Pipa all diese Einsätze festgehalten. Er wolle die Kriegsverbrechen dokumentieren, um später bei deren Aufklärung und Verfolgung helfen zu können, erklärt er. Nun bilden die Aufnahmen erst einmal das Grundmaterial für einen Film, der mitten hineinführt in die Zerstörung, das Töten und in die Vernichtung einer ganzen Stadt und Kultur.

Ginzel und sein Team haben die Sequenzen chronologisch und sorgsam ausgewählt. Seine Editor:innen Stefan Eggers, Guntram Schuschke und Annina Wolf komponieren sie so geschickt, dass statt wackeliger Hektik, die derartige Aufnahmen gern mal aufweisen, ein wahrer Bildersog entsteht, der ein Mittendrin-Gefühl erzeugt, an das keine klassische Reportage herankommt. Wir sind unmittelbar dabei, wie Pipa und sein Kollege Menschen aus dunklen, feuchten Kellern holen. Wie sie zweifelnde Anwohner:innen vom Verlassen ihrer Häuser überzeugen. Wie sie Wunden verarzten, die von Grantensplittern aufgerissen wurden. Wie sie den letzten Zentimeter des Laderaums nutzen, um noch jemanden mitzunehmen. Und später auch, wie sie zunehmend mehr Leichen bergen, in Säcke packen und in ihrem Transporter stapeln.

Regelmäßig werden diese Bilder von Interview-Sequenzen mit den Geretteten sowie mit Pipa unterbrochen, der seine Aufnahmen aus dem Off kommentiert und kontextualisiert. Schritt für Schritt werden so die Dilemmata, die psychologischen und sozialen Dynamiken deutlich, die eine derartige (Massen-)Evakuierung begleiten: der anfängliche Glaube, es werde schon nicht so schlimm; das Zögern, das Hadern und der (nachvollziehbare) Unwille, Haus, Hund, Familie, alles, was man hat, zurückzulassen. Die parallele Zunahme von Solidarität und Verzweiflung. Und nach der Evakuierung schließlich die Erleichterung, endlich in Sicherheit zu sein – sowie die Verzweiflung, seine Heimat, seine Wurzeln verlassen und womöglich für immer verloren zu haben.

Neben diesen menschlichen Schicksalen fängt White Angel auch das unfassbar Ausmaß der Zerstörung Marinkas ein. Sind zu Beginn nur ein paar wenige Häuser beschädigt, werden es zunehmend mehr, bis ein halbes Jahr später die Stadt in Trümmern liegt. Orte wie die Schule oder die Poliklinik, die immer wieder auftauchen, werden nach und nach zu Skeletten aus Betonresten und leeren Fensterlöchern, die Straßen sind vor Schutt kaum noch befahrbar. Quasi im Zeitraffer werden wir Zeugen, wie Marinka dem Erdboden gleichgemacht wird.

Gelegentlich schieben sich melancholische Streicher oder düstere Synthies unter die Aufnahmen. Was reichlich überflüssig ist, sprechen die Bilder sprechen doch für sich und dabei eine deutliche Sprache. So bedarf es auch keiner expliziten Botschaften pro-ukranischer oder anti-russischer Art, um deutlich zu machen, was für ein barbarischer Akt sich da im Osten der Ukraine ereignet hat. Und sich noch immer ereignet. White Angel zeigt das mit voller Wucht.

Gesehen auf dem DOK Leipzig 2023.

White Angel – Das Ende von Marinka (2023)

Wochen nach dem russischen Überfall beginnt Vasyl das Leiden und Sterben in seiner ostukrainischen Heimat zu dokumentieren. Auf den Evakuierungsmissionen im Rettungswagen mit dem Namen „White Angel“ läuft über Monate die Helmkamera des Polizisten mit. Es sind Nahaufnahmen eines brutalen Angriffskrieges, dem vor allem die Zivilbevölkerung zum Opfer fällt. In dem Dokumentarfilm des Leipziger Autoren und Journalisten Arndt Ginzel kommen Retter und Überlebende zu Wort. In der Rückschau erzählen sie vom Untergang ihrer Stadt; Marinka gibt es heute nicht mehr.

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