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„Tiger Stripes“ ist eine mitreißende Odyssee durch den Dschungel der Identitätssuche eines jungen Mädchens in einem repressiven System. In Cannes erinnerte man sich wohl an das Vorbild „Raw“, als man Regisseurin Amanda Nell Eu den Preis der Kritiker:innen verlieh.

Tiger Stripes (2023)

Eine Filmkritik von Felix Armbruster

Mean Girls und ein gestreiftes Raubtier

Eine junge Schülerin nimmt Veränderungen an ihrem Körper wahr: Pickel, Schmerzen, die erste Menstruation. Eigentlich ganz normal für eine 12-Jährige. Das strikte Umfeld ihrer malaysischen Mädchenschule suggeriert ihr allerdings, es sei etwas nicht in Ordnung mit ihr. Selbst ihre Eltern glänzen nicht gerade mit empathischen Gesten. Zudem wird die junge Zaffan von einem Tiger-Dämon verfolgt. Ob dieser in Dingen der Pädagogik bessere Fertigkeiten aufweist als Lehrerinnen, Eltern oder Schulfreundinnen?

Amanda Nell Eus Langfilmdebüt vereint Coming-of-Age-Motive mit Body-Horror und malaysischer Folklore. Inspiriert von Body-Horror-Urgestein David Cronenberg, sind Transformationen des Körpers auch hier der formästhetische Versuch, durch Übernatürliches sehr reale Konflikte zu bearbeiten. Die Pubertät wird kurzerhand zum Monster in ihr. Den Übergang zur Adoleszenz sah auch Julia Ducournau in ihrem Film Raw als etwas Monströses. Auch der spielt in einer Mädchenschule mit strikten Vorschriften. Tiger Stripes geht aber noch einen Schritt weiter und beleuchtet die Erfahrung der Pubertät in einem Land, in dem religiöse Gesetze die freie Entfaltung stark einschränken. 

Die 12-jährige Zaffan geht auf eine Mädchenschule im ländlichen Malaysia, nahe der Hauptstadt Kuala Lumpur. Zu der Trennung von Jungen und Mädchen kommen der Morgenappell im Schulhof, die Verschleierungspflicht und ein autoritärer Umgangston, der eher an Militär als an Schule erinnert. In diesem konservativen Erziehungsumfeld muss Zaffan die einsetzende Pubertät und körperliche Veränderungen entdecken. Reden kann sie darüber mit niemandem. Die Schule zieht sich aus der Verantwortung und Zaffans Mutter weiß sich nur mit Bestrafungen zu helfen, wenn die nackte Haut ihrer Tochter in der Öffentlichkeit zu sehen war. Selbst die privaten Räume, die ihr Sicherheit und Empathie bieten könnten, werden sukzessive zu öffentlichen und damit bedrohlich. Das enge Korsett gesellschaftlicher und religiöser Normen nimmt ihr die Luft zum Atmen. Das übernatürliche Element eines Dämons ist Vehikel für den Ausbruch und die Selbstbehauptung in einer Gesellschaft, in der Frauen kein Raum gegeben wird, sich frei zu entfalten. Für die junge Zaffan gibt es kein Ventil in ihrer unfreiwilligen Gefangenschaft, in der das soziale Umfeld die Gitterstangen ihres Käfigs bildet. 

So setzt sich Tiger Stripes nicht nur, wie Amanda Nell Eu in einem Interview sagt, mit der Pubertät – den vermeintlich unheimlichen Veränderungen des Körpers – auseinander. Die Lebensrealitäten von Frauen in einem muslimischen Land wie Malaysia werden hier ebenfalls sichtbar. Ein Staat, in dem Sexualität, vor allem weibliche, per Gesetz in das Private verdrängt wird, begünstigt die Unterdrückung von Frauen maßgeblich. Interessant hierbei ist, dass die malaysische Zensur Tiger Stripes offenbar gewähren ließ, obwohl Religion und die Art der Religionsausübung in Malaysia ein empfindliches Thema sind. Malaysische Zeitungen berichten emphatisch vom internationalen Erfolg, ohne dass die durchaus kritische Analyse der Unfreiheit von Frauen angemerkt wird. 

Amanda Nell Eu scheint es also mit ihrem Debüt gelungen zu sein, ein großes Publikum zu erreichen und sich gleichzeitig der Zensurbehörde zu entziehen. In einer Szene wird dies besonders anschaulich. Mit ihren Mitschülerinnen Farah und Mariam probiert Zaffan einen BH auf der Schultoilette an. Als eine Lehrerin an der Tür klopft, verstecken sich Farah und Mariam in einer Kabine. Zaffan, ohne Hijab und im armlosen Shirt, hält der Lehrerin die Tür zu. Anschließend muss sie sich auf dem Schulhof von der Direktorin in Anwesenheit aller Schülerinnen tadeln lassen. Doch für welches Verhalten wird sie hier zurechtgewiesen? Offensichtlich geht es der Schuldirektorin um die körperliche Freizügigkeit, wenn sie anmerkt, dass es sich bei einer Schultoilette nicht um einen privaten, sondern um einen gemeinschaftlichen Raum handle, der auch so zu benutzen sei. In den Augen einer Zensurbehörde könnte allerdings auch ihr wehrhaftes Verhalten als Grund für das öffentliche Tadel interpretiert werden. Verbot oder Zensur wäre dann nicht nötig. Und im Falle eines Konflikts könnte sich die Regisseurin hierauf berufen. Amanda Nell Eu scheint hier ebenso spielerisch mit dem Erlaubten und dem Verbotenen zu jonglieren wie ihre Figur Zaffan.

Amanda Nell Eu inszeniert mit Tiger Stripes einen beeindruckenden Coming-of-Age Horrorfilm, der sich vor A24-Produktionen nicht verstecken muss. Auf dem Filmfestival von Cannes 2023 gewann sie den Preis für Nachwuchstalente. Tiger Stripes ist damit der erste malaysische Gewinner in dieser Kategorie – nicht schlecht für einen Debütfilm. Schon in Nell Eus Kurzfilmen It’s Easier To Raise Cattle und Vinegar Baths stehen die Lebensrealitäten von Frauen im Mittelpunkt. Ihr erster Langfilm ist nun erst recht eine Herausforderung für das streng muslimisch geprägte Land, das sich laut der malaysischen Organisation Sisters In Islam seit einigen Jahren zunehmend fundamentalistisch islamisiert. Umso besser, dass dieser Film offenbar grünes Licht von der Zensurbehörde bekommen hat. Tiger Stripes gibt Frauen eine Stimme, ohne sich in den Leiden ihrer Unterdrückung zu suhlen. Vielmehr werden hier die auferlegten Grenzen spielerisch ausgelotet.

Tiger Stripes (2023)

Als die 11-jährige Zaffan in die Pubertät kommt, beginnt ihr Körper, sich in alarmierender und erschreckender Geschwindigkeit zu verwandeln. Aus Angst, als Monster bezeichnet zu werden, kämpft sie darum, in der Schule normal zu bleiben, indem sie versucht, ihr groteskes Selbst zu verbergen…. bis sie entscheidet, dass sie sich nicht mehr vor der Welt verstecken wird.

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