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In der Filmperle „Little Fugitive – Der kleine Ausreißer“ begleiten Ruth Orkin, Morris Engel und Ray Ashley einen Siebenjährigen bei einem Abenteuer in Brooklyn.

Little Fugitive (1953)

Eine Filmkritik von Andreas Köhnemann

Joey allein am Strand

Im Rahmen der Berlinale-Retrospektive 2023 stellten internationale Filmschaffende ihre Coming-of-Age-Filmfavoriten vor, darunter Nicholas Rays „… denn sie wissen nicht, was sie tun“ (1955) und John Hughes’ „Ferris macht blau“ (1986). Der aus Houston, Texas stammende Regisseur Wes Anderson (Jahrgang 1969) entschied sich dabei für die wenig bekannte Low-Budget-Produktion „Little Fugitive – Der kleine Ausreißer“ aus dem Jahre 1953, die nun eine Wiederaufführung in den deutschen Kinos erhält.

Der Film stammt von dem Regie-Trio Ruth Orkin, Morris Engel und Raymond Abrashkin aka Ray Ashley, das einen Hintergrund in der Fotografie hatte. Die mobile 35-mm-Kamera, mit der das Geschehen eingefangen wird, soll Engel damals am eigenen Körper befestigt haben, um in Nabelhöhe die Perspektive des Kindes einnehmen zu können, das hier im Zentrum steht (oder vielmehr: herumwuselt).

Der siebenjährige Joey (Richie Andrusco) lebt mit seinem zwölfjährigen Bruder Lennie (Richard Brewster) und der verwitweten Mutter (Winifred Cushing) in Brooklyn. Als die gestresste Mutter, die in einem Kaufhaus tätig ist, zu einem familiären Notfall gerufen wird, muss sich Lennie um den kleinen Joey kümmern – ausgerechnet an dem Tag, an dem er mit seinen beiden Kumpels Harry (Charlie Moss) und Charley (Tommy DeCanio) nach Coney Island gehen wollte, um dort sein ganzes Geburtstagsgeld zu verprassen.

Die drei Jungs schmieden einen Plan, um Joey loszuwerden: Sie spielen dem ahnungslosen Siebenjährigen vor, dass er Lennie angeblich mit einem echten, geladenen Gewehr erschossen habe und er sich deshalb nun dringend auf die Flucht begeben müsse. So eilt Joey ängstlich davon – und landet im Vergnügungspark und am Strand von Coney Island, wo er sich an Wurfständen und in Fahrgeschäften, mit Hotdogs und Zuckerwatte die Zeit vertreibt, ungewöhnliche Freundschaften schließt und wilde Abenteuer erlebt. Lennie macht sich derweil große Sorgen um die verscheuchte „Nervensäge“ und begibt sich auf die Suche nach Joey.

Es ist leicht zu begreifen, was Anderson an dem Werk so fasziniert und weshalb er es für ein einflussreiches Stück Adoleszenzkino hält. In herrlichen, sehr lebhaften Schwarz-Weiß-Aufnahmen, die mit ihrem genauen Blick gewissermaßen die Epoche des Cinéma vérité in den 1960er Jahren vorwegnehmen, erleben wir zunächst den sommerlichen Alltag einer Kleinfamilie im urbanen Raum aus kindlicher Sicht. Da wird mit Kreide auf die Straße gemalt, Mundharmonika und amateurhaft Baseball gespielt; im Fernsehen in der engen Wohnung läuft eine Western-Serie. Auf der Halbinsel Coney Island an der Atlantikküste tobt wiederum später der Freizeitspaß: Die Leute flanieren auf der Promenade, liegen im Sand, schwimmen im Ozean, vergnügen sich auf dem Rummel. Mit sechs Dollar in der Tasche scheint Joey hier die Welt offenzustehen; für lediglich 10 US-Cent können die lauthals angepriesenen Attraktionen genutzt werden. In manchen Passagen setzt der Film ganz auf die stimmungsvolle Musik, um in den Coney-Island-Kosmos einzutauchen.

Little Fugitive zeigt eine aufrichtige Brüderbeziehung, die von den charismatischen Laiendarstellern Richie Andrusco und Richard Brewster glaubhaft zum Ausdruck gebracht wird. Nicht zuletzt ist der kleine Joey ein Vorreiter des jugendlichen Antoine Doinel aus François Truffauts Sie küssten und sie schlugen ihn (1959). Wie der französische Autorenfilmer selbst einmal sagte, hätte es die Nouvelle Vague ohne diese unabhängige Produktion aus den Vereinigten Staaten abseits von Hollywood wohl nie gegeben.

Little Fugitive (1953)

Der kleine Joey, der Pferde und Cowboys über alles liebt und leidenschaftlich gerne Western im Fernsehen guckt, und sein älterer Bruder Lennie leben gemeinsam mit ihrer verwitweten Mutter in Brooklyn. Wegen eines Notfalls muss die Mutter verreisen und die Kinder alleine lassen. Lennie wird angewiesen, auf Joey aufzupassen. Allerdings hatte Lennie geplant, das Wochenende mit seinen Freunden zu verbringen. Um den kleinen Störenfried loszuwerden, beschließt er, ihm einen Streich zu spielen, indem er einen Gewehrunfall vortäuscht. Joey denkt, er hat seinen Bruder getötet und läuft erschrocken mit dem Geld, das seine Mutter für die Kinder hinterlegt hat, nach Coney Island. Dort macht er sich einen vergnügten Tag auf dem Rummel. Als ihm das Geld ausgeht, entwickelt er eine erstaunliche Energie und großen Einfallsreichtum, um viele weitere Runden beim Ponyreiten drehen zu können…

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