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Rund 80000 Menschen werden jedes Jahr in Japan als vermisst gemeldet. Die meisten von ihnen kehren wieder zurück oder werden gefunden. Aber es gibt auch Tausende, die ihre soziale Existenz abstreifen und neu anfangen wollen. Etliche Firmen haben sich darauf spezialisiert, ihnen zu helfen.

Johatsu - Die sich in Luft auflösen (2024)

Eine Filmkritik von Bianka Piringer

Sie wollen nicht gefunden werden

In Japan entscheiden sich jedes Jahr Tausende Menschen, einen Schlussstrich unter ihr bisheriges Leben zu ziehen und abzutauchen. Leistungsdruck, Schulden, ein gewalttätiges Umfeld – die Gründe sind vielfältig in einer Gesellschaft, in der Fehler und Misserfolg traditionell als unerträgliche Schande gelten. Für die Vielen, die von einem Tag auf den anderen einfach verschwinden, gibt es in Japan sogar einen Begriff: Sie werden Johatsu genannt, die Verdunsteten. Um diesen Schritt zu schaffen, nehmen manche von ihnen die Dienste von Night Moving Companies in Anspruch. Diese organisieren die Flucht, sorgen je nach Bedarf für eine geheime Unterkunft und einen neuen Job, räumen die Wohnung, bieten Schutz und moralische Unterstützung.

Der Dokumentarfilm von Andreas Hartmann und Arata Mori beginnt spannend wie ein Krimi und mit Trommelwirbel. Aus ihrem Auto spähen Saita, die Chefin der Night Moving Company TSC, und ihre Mitarbeiterin auf eine Straße. Ihr Klient hat sich zu der Uhrzeit angekündigt, wenn seine Freundin für gewöhnlich ein Bad nimmt. Minuten vergehen, dann sieht Saita den Mann auf das Auto zulaufen. Kaum sitzt er drin, geht die Fahrt schon los. Er soll unerreichbar werden für die krankhaft eifersüchtige Partnerin, die ihn einsperrte.

Gegründet wurden die Unternehmen, die beim freiwilligen Verschwinden helfen, in den 1990er Jahren. Damals verschuldeten sich viele Menschen im Zuge der japanischen Wirtschaftskrise heillos. Wie eine Texteinblendung verrät, arbeiten die Firmen, die diese besondere Art der Umzugshilfe anbieten, auf legalem Boden, bewegen sich mit einigen ihrer Aktivitäten aber auch in einer Grauzone.

Einige von Saitas Mitarbeitenden waren einmal ihre Klienten. So auch der Mann, der den in seiner Heimatstadt bekannten Familienbetrieb nicht vor dem Bankrott retten konnte. Zuerst habe er an Selbstmord gedacht, erzählt der nervös wirkende Mann. Nun träumt er davon, dass seine Kinder zu ihm ziehen, wenn sie einmal studieren. Ein sehr bewegender Moment entsteht, wenn der Mann nach einem Telefonat mit seinem Sohn sagt, sein Gesicht habe sich gerade ungewöhnlich entspannt angefühlt. Auch ein junges Pärchen, das in einem ungenutzten Zimmer eines Liebeshotels sein Versteck fand, ist der Verschuldung entflohen. Sie waren bei einem mafiösen Geschäftsmann beschäftigt, der ihnen den Tod androhte. Die junge Frau, die im Liebeshotel als Zimmermädchen jobbt, scheint den Leistungsdruck, der sie schon im Elternhaus quälte, verinnerlicht zu haben. Sie registriert, was ihr alles fehlt, um zum Lebensstandard ihrer Generation aufzuschließen – eine gute Ausbildung, eine eigene Familie.

Kanda hingegen, der ebenfalls vor Kriminellen fliehen musste, hat sich mit einem Leben als Tagelöhner und Obdachloser arrangiert. Seit 37 Jahren hat er seine Mutter und seine Schwester nicht mehr gesehen, aber die Sehnsucht nach der Ursprungsfamilie bleibt. Im Film kommt auch eine Mutter vor, die einen Detektiv beauftragt hat, ihren 26-jährigen verschwundenen Sohn zu suchen. Jahrelang quälte sie die Angst, er könne sich umgebracht haben. Auch ihre Geschichte bewegt, denn sie kann letztlich wenig ausrichten gegen seine Entscheidung, sie aus seinem Leben auszuschließen.

Mit den wiederholten, aber dennoch sparsam eingestreuten Trommelklängen und den vielen Nachtaufnahmen erzeugt der Film eine konspirative Atmosphäre. Die vielen Stadtansichten mit Hochhäusern, Straßen und unscheinbaren Wohnsiedlungen erzeugen ein diffuses Gefühl der Verlorenheit. Auch Traurigkeit schleicht sich ein während der Erzählungen der Protagonist*innen, denen der Film sehr nahe kommt. Die Sehnsucht und die emotionale Suche dieser Menschen nach einem Leben, wie sie es einst hatten, bevor die Dinge aus dem Ruder liefen, wird spürbar.

Die Unternehmerin Saita speist ihren rebellisch anmutenden Widerstandsgeist aus eigenen schlimmen Erfahrungen. Menschen zu helfen, die sich verstecken und neu anfangen wollen, ist für sie auch Berufung. Der Film hinterfragt nicht, ob sie auch Menschen ausnutzt, denen auf andere Weise, beispielsweise mit psychologischer Behandlung, besser geholfen wäre. Ohne es gründlich auszuleuchten, führt der Film aber auf spannende Weise in ein Thema ein, das auch in Europa an Bedeutung gewinnen könnte.

Gesehen auf dem DOK.fest München 2024.

Johatsu - Die sich in Luft auflösen (2024)

Im heutigen Japan verschwinden Menschen spurlos mit der Hilfe von sogenannten „Nachtfluchtagenturen“, die Menschen dabei unterstützen, heimlich unterzutauchen. Bekannt als die Johatsu oder „die zu Wasserdampf Gewordenen“, lassen Sie alles zurück und versuchen, woanders ein neues Leben zu beginnen. (Quelle: Film und Medien Stiftung NRW)

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