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Annika Mayer befragt in „Home Sweet Home“ ihre Großmutter zu deren Ehe mit einem aggressiven, gewalttätigen Mann und demontiert damit den „Früher war alles besser“-Mythos.

Home Sweet Home (2023)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

„So war das damals.“

Schon über den ersten Bildern von Annika Mayers „Home Sweet Home“ liegt eine trügerische Idylle. Ein weißes Einfamilienhaus mit kleinem Garten, die Wiese grün, lächelnde Gesichter, beschwingte Musik, der deutsche Spießertraum im Wirtschaftswunder scheint perfekt. Doch ihr ist nicht zu trauen, dieser Utopie, irgendwas stimmt hier nicht. „Okay, Oma, ich fang noch mal von vorne an“, sagt Mayer im Off zu ihrer Großmutter. Zurück auf Anfang.

Private Super-8-Aufnahmen aus den 50ern und 60ern bilden den visuellen Grundstock von Home Sweet Home, gelegentlich unterbrochen von Nahaufnahmen Rose Mayers, eben jener Großmutter, die hier von ihrer Ehe mit Annika Mayers Großvater Rolf erzählt. Oder vielmehr: von ihrem Martyrium mit diesem 13 Jahre älteren Mann, der im Krieg fast überall in Europa stationiert war, den sie Anfang der 50er kennenlernte, der sie unvermittelt küsste und sofort heiraten wollte. 

Man weise so einen Mann nicht ab, habe ihr Vater gesagt. 1953 folgte die Hochzeit, bald schon das erste Kind, und von da an änderte sich alles. Rolf sei zunehmend launischer, aggressiver, bald auch gewalttätig geworden, Rose und seinen beiden Söhnen gegenüber. Habe ständig anderen Frauen hinterhergeschaut, eine Affäre mit einer gerade mal volljährigen Sekretärin in seinem Betrieb angefangen. Und irgendwann, da habe er Rose sogar mit einer Pistole bedroht.

Rose Mayer berichtet von all dem mal nüchtern, mal mit subtil spürbarer Emotionalität und scheint die Vergangenheit zunächst – ein wenig auch aus Selbstschutz – zu verklären. So sei das damals eben gewesen, sagt sie, gibt sich teilweise sogar selbst die Schuld. Doch zunehmend schimmert in ihren Aussagen eine überaus reflektierte Sichtweise auf die 23-jährige Ehe durch. Rose Mayer spricht über das extreme Abhängigkeitsverhältnis, das sie zu Rolf hatte: ihr Vater nahm sie, als die Verlobung anstand, frühzeitig von der Schule. Sie muss sich fassen, schluckt, ist den Tränen nahe. Momente, die zu Herzen gehen.

Derweil unterlegt ihre Enkelin die alltäglichen Bilder von Wanderausflügen mit Wurstsuppe, von Nordsee- und Alpen-Urlauben, vom Toben im Garten mal mit passenden Soundeffekten wie Meeresrauschen und Vogelzwitschern, viel öfter aber mit synthetischen, atonalen Klängen, die eine unheimliche Atmosphäre schaffen. Und die den Traum von der Bilderbuchkleinfamilie mitsamt den Worten ihrer Großmutter als den Albtraum entlarven, der er war. Home Sweet Home gelingt es mit nur wenigen Mitteln, mehr als eindrücklich zu zeigen, dass früher beileibe nicht alles besser war. Dass solche Dinge leider nicht allein der Vergangenheit angehören, diesen Gedankensprung überlässt er aber seinem Publikum.

Home Sweet Home (2023)

Alte Super-8-Filme zeigen Familienglück, westdeutsches Wirtschaftswunder, Eigenheimidylle, Großmutter Rose als junge Frau mittendrin. Die Gewalt in Roses Ehe zeigen sie nicht. Oder doch? (Quelle: Dok Leipzig)

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