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Edgar Reitz erzählt über im Film gespeicherte Zeit, über Form und über die Frage, ob wir nicht alle Analphabeten in der Sprache der Kamera sind.

Filmstunde_23 (2024)

Eine Filmkritik von Niklas Michels

Filmstunde_23

„Ich kann mir nicht vorstellen, wie sich die Menschen früher erinnert haben, bevor es den Film gab“, dieses Zitat vom französischen Dokumentarfilmer Chris Marker spiegelt Edgar Reitz’ Kernidee wider. Man könnte noch die durch Charaktere im Film „Yi Yi“ (2000) gesprochenen Worte des Regisseurs Edward Yang – „Wir leben dreimal so lang, seit wir den Film erfunden haben“ – hinzufügen. 55 Jahre fliegen im Wimpernschlag, im Schnitt der Kamera, am Publikum von Filmstunde_23 vorbei. 1968 gab Reitz eine vierwöchige Unterrichtseinheit über Film, Filmtheorie und was das Medium im Innersten zusammenhält. Montage, Auteur-Theorie, Dokumentarfilm und Genre verhandelt der nun selbst vor der Kamerastehende Regisseur mit seinen jungen Schülerinnen. Begonnen wird mit Objekt-Subjekt-Beziehung – wie können wir etwas darstellen? – enden tut es mit einem eigenen Film. Ausgestattet mit einer Nizo Super8 Kamera (also nicht anders als Avantgardefilmmacher:innen der Zeit) erkunden die Mädchen ihre Münchener Umwelt.

Der mittlerweile 90 Jahre alte Edgar Reitz veranstaltet mit seinen Schülerinnen ein Klassentreffen – vielmehr einen Filmabend. Als Publikum sehen wir in die Vergangenheit, das Jetzt und die Filmklasse wie sie ganz persönlich zurückblicken. Es ist faszinierend zu sehen, wie die gedrehten Filme eine Sprache finden, nicht weit entfernt vom New-Yorker Underground, der Kölner-Gruppe oder anderen experimentierfreudigen Filmermacher:innen.

In fiktionalen Filmen sieht man häufig das Motiv einer prägenden Zeit. Es geht dann um ein Ereignis, das fortan der Gedankenwelt einer Figur innewohnt und, selbst wenn nicht explizit, stets das Zuhause, den Angelpunkt des Selbst darstellt.

Schaut man eine Sektion weiter in der Berlinale, so sieht man mit I Saw The TV Glow (2024) eine Neuaufmachung und Neuinterpretierung dieser Nostalgie, ohne verbraucht-klischierte Bilder. Es ist derselbe Blick, den Edgar Reitz in den Augen seiner Protagonistinnen findet. Mit einem Fingerschnippen ist ein halbes Jahrhundert vergangen, doch die Welt wirkt wie ein Filmriss, wenn die Schülerinnen wieder nebeneinander sitzen und der alte Habitus hervorkommt. Kleine Anekdoten – über die Filme, über die Unterrichtsstunden – die wohl normalerweise Opfer des Vergessens gewesen wären, werden mit einer unglaublichen Beiläufigkeit geteilt.
 
Einen Elternabend aus der Vergangenheit sieht man ebenfalls. Manche finden das Projekt gut, andere Sorgen sich, ihre Kinder würden damit zu viel Zeit verschwenden. Probleme tun sich auf. Doch selbst vor 55 Jahren stieß der Filmunterricht vorwiegend in einem Punkt auf Zuspruch: Lernen, die Sprache zu sprechen, die wir auf unseren Bildschirmen sehen. Heutzutage würden wir das wohl „Medienkompetenz“ nennen, damals war es eher ein Appell, gegen die Manipulation der Kamera zu arbeiten. Jahre später stehen wir immer noch vor dem exakt selben Dilemma. In der filmischen Sprache sind wir immer noch Analphabeten!

Der Film erfüllt für Zuschauerinnen und Zuschauer unterschiedliche Zwecke. Hat man keine besondere Verbindung zum Kino, so sind bereits die kleinen Abhandlungen über Funktionsweise von Montage und Kamerafahrt informativ und sicherlich nützlich. Filmschaffende werden in dieser Hinsicht nichts Neues lernen – das ist aber auch nicht die Aufgabe eines Dokumentarfilmes. Themen wie Auteur-Theorie heizen abermit Sicherheit die ein oder andere Diskussion an. Es würde kaum wundern, wenn die Niza Super8 Kamera – wie im Film verwendet – plötzlich in Gebrauchtläden vergriffen ist. Filmstunde_23 macht Lust darauf, eigene Filme zu drehen!

Am Ende widmet sich Edgar Reitz noch einmal seinen ehemaligen Schülerinnen. Zeitlichkeit wird inhärente Realität, Menschen blicken auf etwas zurück, an das man sich kaum erinnern kann. Nur die Filmrollen, sicher aufbewahrt oder digitalisiert, bringen Kontext zu einer Zeit, die prägend für die Schülerinnen (aber mindestens genauso sehr für Regisseur Reitz) gewesen ist. Mit seiner mittlerweile etwas gebrechlichen Stimme gibt er seinen Schülerinnen noch einen Rat mit: „Wir können etwas retten vor der Zeit, die erbarmungslos über uns hinweg geht (…) die Endlichkeit aller unserer Erfahrungen wird relativiert durch den Film.“ Letzte Worte auf dem wohl letzten Klassentreffen.

Gesehen auf der Berlinale 2024.

 

Filmstunde_23 (2024)

Im Jahr 1968 verwandelt sich ein Klassenzimmer eines Münchner Mädchengymnasiums unter Leitung des jungen Edgar Reitz in ein Filmstudio. Die Filmstunde beginnt: der erste in der Filmgeschichte dokumentierte Versuch, Filmästhetik als eigenständiges Fach zu unterrichten. 2023 wird Edgar Reitz, mittlerweile weltberühmter Regisseur des Filmepos Heimat, von einer älteren Dame angesprochen, die sich als eine der damaligen Schülerinnen zu erkennen gibt. Sie verabreden ein Klassentreffen. Montiert aus einem Dokumentarfilm über das damalige Projekt, den Super-8-Filmen der Schülerinnen und dem gefilmten Wiedersehen im Jahr 2023, entsteht eine Art Langzeitbelichtung der letzten 55 Jahre Filmgeschichte. Zeigt sich die Persönlichkeit der Schülerinnen bereits in den Übungsfilmen? Und was sagen die Damen zur Filmkultur der Gegenwart? (Quelle: Berlinale)

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