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Jonathan Schörnig dokumentiert in „Einhundertvier“ in Echtzeit und bis zu sechs parallel laufenden Bildern die Rettung von 104 Flüchtlingen im Mittelmeer. Dok-Film pur.

Einhundertvier (2023)

Eine Filmkritik von Christian Neffe

Drahtseilakt

Nein, das Bildmaterial von „Einhundertvier“ ist nicht neu. Im Gegenteil: Geschlagene vier Jahre ist es bereits alt. Und doch ist es – leider mal wieder – brandaktuell. Denn die Debatten um die Aufnahme, Verteilung und Rückführung von Migrant:innen und Asylsuchenden, vor allem vom afrikanischen Kontinent, werden in den europäischen Parlamenten derzeit wieder mit aller Vehemenz geführt. Nicht zuletzt angefacht von Populist:innen, die damit auf Stimmenfang gehen wollen und dabei bisweilen auch Rettungsaktionen im Mittelmeer als Taxiservice diskreditieren. Wie weit das an der Realität vorbeigeht, zeigt das Langfilm-Regiedebüt von Jonathan Schörnig mit größtmöglicher Authentizität.

Denn Einhundertvier dokumentiert eine solche Rettungsaktion und zeigt dabei Bilder, die wir in den vergangenen Jahren im Grunde etliche Male in Nachrichtensendungen und Reportagen gesehen haben. Das Herausragende jedoch: Es ist ein Splitscreen-Film. Schörnig teilt die Leinwand in drei mal zwei Bilder auf, bespielt mal drei, mal vier, mal alle davon mit Material aus mehreren Kameras, sowohl mobilen als auch fest installierten. 

Und: Es ist ein Film in Echtzeit. Mehr als eine Stunde dauert die Rettung der titelgebenden 104 Menschen, die auf einem Schlauchboot auf dem Wasser treiben. Die Crew der Eleonore von Mission Lifeline hat einen Notruf erhalten, und das Dreierteam des Schnell-Beiboots, quasi die Vorhut, muss feststellen, dass aus dem Boot, das sie entdeckt haben langsam die Luft entweicht. Tempo ist angesagt. Ob es okay sei, jetzt zu filmen, fragt Schörnig den Kapitän Claus-Peter Reisch, der den Ernst der Lage sofort erkennt. Seine Antwort: Keine Live-Übertragung, aufzeichnen ist aber okay. Und impliziert damit: Es könnte schlimm enden.

Im Folgenden pendelt das Schnellboot immer wieder zwischen der Eleonore und dem Schlauchboot, die Crew verteilt zunächst Rettungswesten, bringt anschließend immer eine Handvoll Männer in Sicherheit. Ganz vorn dabei: Clara Richter, die mit den in Seenot Geratenen kommuniziert, trotz brenzliger Lage ruhig bleiben und Panik vermeiden muss, Anweisungen gibt und jedem einzeln auf das Schnellboot hilft. Es ist ein Drahtseilakt, der noch verschärft wird, als am Horizont ein Schiff der libyschen Küstenwache auftaucht, der Eleonore gefährlich nahe kommt und Panik unter den Geretteten ausbricht. Denn die fürchten, wieder zurückgeführt zu werden. Oder womöglich noch Schlimmeres.

Einhundertvier, der beim DOK Leipzig 2023 mit vier verdienten Preisen ausgezeichnet wurde, mag oberflächlich betrachtet alles andere als große Filmkunst sein. Keine ausgefallene Kameraführung, quasi keine Montage (lediglich die letzten fünf Minuten schildern den weiteren Werdegang der Eleonore, die mit just dieser Rettungsmission im Spätsommer 2019 die Nachrichten dominierte), keine Musik, kein Kommentar, stattdessen die immer gleiche, repetitive Schleife aus Abholen, Wegbringen, Abholen, Wegbringen. Und doch ist das hier ein Dokumentarfilm in seiner reinsten, puristischen, authentischen Form, der keinerlei dramaturgischer Nachbearbeitung bedarf. Denn allein die Situation ist dramatisch genug, weil sie derart heikel ist und jederzeit in eine Katastrophe münden könnte.

Das hinterlässt einen tiefen Eindruck – inhaltlich wie formal. Und ist ein unheimlich wichtiges Zeitdokument, das allen eine Lehre sein sollte, die im Parlament oder am Stammtisch die Legitimität und Notwendigkeit solcher Seenotrettungen sowie die Gefahr, in die sich die Retter:innen begeben, herunterspielen.

Einhundertvier (2023)

Die Rettung von 104 Schiffbrüchigen im Mittelmeer, Mensch für Mensch, Schritt für Schritt, in einer Echtzeitdokumentation. Helfen gegen die Uhr – und die organisierte Ignoranz der Behörden. (Quelle Dok Leipzig)

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