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Ausgerechnet ein dreistündiger Dokumentarfilm über einen Zoo erweist sich als das perfekte Gegenmittel bei akuten Fällen von Politikverdruss und Zivilisationsmüdigkeit.

Der unsichtbare Zoo (2024)

Eine Filmkritik von Katrin Doerksen

Zusammenleben im Zoo

Haben Sie schon mal über die Empfängnisverhütung bei Tapiren nachgedacht? Ähnlich wie bei uns Menschen bekommen die Weibchen im Zoo eine Progesterontablette täglich über das Futter gereicht, die Kosten für das Medikament belaufen sich aber gleich mal auf mehrere Tausend Euro im Monat. Ganz abgesehen davon, dass das Hormon sich bei langfristiger Einnahme nachteilig auf den Uterus auswirken kann. Also doch gelegentlich neue Jungtiere zulassen? Oder übersteigen die entsprechenden Folgekosten die Investitionen ins Verhütungsmittel? 

So viele Fragen, über die ich mir noch nie Gedanken gemacht habe, Bilder, die ich so noch nie gesehen habe. Natürlich muss es eine eigene Schlachterei in einem Zoo geben, natürlich einen eigenen Raum für die Haltung des „Lebendfutters“, natürlich tütenweise weiße Mäuse, nicht die Süßigkeit aus Schaumzucker, sondern echte Mäuse, Leckerbissen für Greifvögel, Reptilien und Co. Die Aspekte des ganzen Zirkus, die die niedlichen Nachmittagsdokuserien in den Dritten Programmen meist auslassen, die aber selbstverständlich dazugehören. Romuald Karmakars Dokumentarfilm heißt nicht umsonst Der unsichtbare Zoo.

Normalerweise sind die Blickhierarchien in einem Zoo ja klar verteilt: Der Mensch beobachtet das Tier. Vor Karmakars Kamera werden alle Spezies gleichermaßen zum betrachtenswerten Subjekt. Über die verschiedenen Jahreszeiten hinweg begleitet der Filmemacher die Tiere, Besucher, Pfleger und sonstigen Mitarbeiter des Zoo Zürich. Im Rahmen eines großen Umbauprojekts legt man dort einzelne Gehege zu Nachbildungen ganzer Ökosysteme zusammen, ein riesiger künstlicher Baobab wird dafür errichtet. Zuerst sehen wir das Abladen eigentümlich geformter Metallrohre, die zusammengesteckt eine skelettartige Skulptur ergeben, später die fertig verkleidete Baumattrappe. Derweil führt die Personalabteilung Bewerbungsgespräche mit Freiwilligen, die Chefetage geht die Bilanzen durch, die Zoologen diskutieren Komplikationen bei der Unterbringung von Elefantenbullen, und ein zenmäßig stillliegendes Krokodil gibt den Besuchern Rätsel auf. „Ist das überhaupt echt? Das schnauft ja gar nicht!“

Das alles beobachtet Karmakar in langen, fixen Einstellungen, ohne Musik, Interviews oder sonstige Einmischungen. Einzelheiten erfahren wir nur, wenn in der Nähe der Kamera zufällig drüber gesprochen wird, ansonsten schrillt Tiergeschrei durch alle Winkel des Zoos oder höchstens der Lärm herumtollender Kinder. Die drei Stunden Laufzeit fliegen trotz der nüchternen Erzählhaltung vorbei. Das liegt zum Einen sicher am Unterhaltungswert der Tiere. Der Gazellennachwuchs jagt einander in wahnwitzigen Sprüngen durchs Gehege, Leoparden schlafen auf dem Rücken mit den Pfoten in der Luft wie faule Hauskatzen. und manche Vögel sehen mit ihren Federbüscheln auf den wild zuckenden Köpfen einfach wahnsinnig albern aus.

Aber es ist auch so viel mehr als das. Mit Der unsichtbare Zoo verhält es sich ein bisschen wie mit kulinarischen Filmen, in denen es natürlich irgendwie ums Essen geht, ohne dass das Essen selbst aber der springende Punkt ist. Natürlich geht es hier um die Tiere, aber wenn Romuald Karmakar die inneren Abläufe des Organismus Zoo betrachtet, dann ist das im Kern nicht so viel anders als wenn Marie Wilke in Aggregat mit ihren Beobachtungen aus dem Parlament, aus Parteiarbeit und Bürgergesprächen eine Bestandsaufnahme der Demokratie in Deutschland wagt oder Frederick Wiseman in Ex Libris — The New York Public Library die Arbeit einer der größten öffentlichen Bibliotheken der Welt würdigt.

Dann reiht sich Der unsichtbare Zoo in eine Art von Filmen ein, die tatsächlich dazu geeignet scheinen, ihrem Publikum ein gewisses Vertrauen in Institutionen zurückzugeben. Nicht weil es darin ohne Kontroversen und Reibung gehen würde, sondern genau deswegen. Weil der Film wie ein Beweis dafür wirkt, dass es nur so überhaupt funktioniert, dass im Hinarbeiten auf gemeinsame Ziele ein Rädchen ins andere greifen muss. Das lässt sich nicht einmal nur auf die politische Praxis anwenden, sondern generell auf unser Zusammenleben als Gesellschaft.

Gegen Ende des Films wird der Zoo Zürich von der Pandemie eingeholt. Es ist Sommer, eigentlich die besucherstärkste Saison, aber die Wege und Gänge bleiben leer. Im Affenhaus sitzen die Gorillas gemeinsam im Stroh, und sicher ist auch eine gute Portion Projektion dabei, aber wenn man in diese unheimlich menschenähnlichen Gesichter schaut, hat man unweigerlich den Eindruck, als würden auch sie sich fragen, wo bloß alle geblieben sind. Als würden sie deswegen in der Gruppe zusammenrücken und gemeinsam ausharren, abwarten, wie es nun weitergeht. Ein Tier tritt direkt an die gläserne Barriere, die die Sphäre der Affen von jener der Menschen trennt, schaut fragend durch die Scheibe und in die Kamera. Es ist beinahe, als schaue man in einen Spiegel.

Der unsichtbare Zoo (2024)

Über die Jahreszeiten hinweg wird vom Leben, der Arbeit, den Tieren und den Besucher*innen des Zoo Zürich erzählt, eine Institution, die zu den führenden Zoologischen Gärten Europas zählt. Das Tier im Gehege, der Mensch im Kino. Was liegt dazwischen? (Quelle: Berlinale)

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