Kolumnen

Kolumnen: Über schwierige Filmlieben

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Was bedeutet es, wenn der Lieblingsfilm von einem Mann inszeniert wurde, der eine Minderjährige vergewaltigt hat? Sonja Hartl über ihre schwierige Filmliebe von Roman Polanskis “Chinatown”.

20th Century Fox
Roman Polanski in Chinatown

Als ich im November bei den Nordischen Filmtagen war, sprach ich mit Studierenden der Uni Greifswald über das Filmkritikerinnen-Dasein und dabei kam es auch zu der Frage, die ich sehr oft gestellt bekomme: Welcher denn mein Lieblingsfilm sei? Als ich darauf antwortete, dass „Lieblings-“ für mich eine schwierige Kategorie sei, veränderte sich die Frage zu „Welcher Film hat Dich sehr lange begleitet?“. Darauf gibt es eine eindeutige Antwort, die ich eigentlich gar nicht mehr geben möchte. Es ist Roman Polanskis Chinatown.

Ich habe ihn irgendwann während der Schulzeit das erste Mal gesehen und war fortan besessen von der Zeit, von Männern mit Hüten im Allgemeinen und Jack Nicholson im Besonderen. Natürlich stieß ich bereits damals darauf, dass Polanski nicht mehr in die USA einreist, weil er sich einem Verfahren wegen der Vergewaltigung einer Minderjährigen entzogen hatte. Aber meiner Liebe zu diesem Film tat das sehr lange keinen Abbruch. Doch je älter ich wurde, desto mehr Zweifel stellten sich ein – an der Singularität der Tat und der Vorwürfe – und Polanski wurde für mich immer mehr zu einem Beispiel für eine Branche, in der Männer mit sehr vielem durchkommen. Es war eine Befürchtung, die in diesem Jahr bestätigt wurde. Angefangen mit Harvey Weinstein. Gefolgt von zahllosen Namen.

Auch Polanski wird in dieser Debatte immer wieder genannt, es gibt weitere Vorwürfe, denen er sich ebenfalls nicht stellt. Dennoch werden seine Filme weiterhin gezeigt und gewürdigt, die Cinémathèque française würdigte ihn ab Oktober gar mit einer Retrospektive. Protesten wurde mit dem Hinweis begegnet, man wolle nicht an die Stelle der Justiz treten. Aber können wir wirklich noch so tun, als hätte sich nichts verändert? Ich weiß, dass ich einen Weg finden muss, mit diesem Film von Polanski umzugehen, der so wichtig für mich war – und ich glaube, die Öffentlichkeit muss es auch. Das ist eine der großen Aufgaben, die uns 2017 hinterlässt.

Hier kann man es sich natürlich einfach machen und den Künstler vom Werk trennen. Das müsste dann für alle Filme gelten, ob sie gut oder schlecht sind, ob der Filmemacher rassistisch, sexistisch, faschistisch und so weiter ist. Aber das funktioniert nicht. Es gibt Grenzen und Verantwortlichkeiten. Natürlich muss ich einen Künstler nicht sympathisch finden, ich muss ihn gar nicht kennen, ich muss seine Meinung nicht teilen, um sein Werk zu schätzen. Aber ich kann seine Taten nicht ignorieren und ich will nicht dazu beitragen, dass ein Mann eine Minderjährige vergewaltigt, aber keinerlei Konsequenzen dafür tragen muss. Was wäre, wenn Polanski sich damals dem Prozess nicht entzogen hätte und verurteilt worden wäre? Wenn er im Gefängnis gelandet wäre – würde er dann immer noch Filme machen? Oder hätte er Schwierigkeiten, einen Job zu finden, wie viele Menschen, die im Gefängnis saßen?

Männer wie Polanski, wie Weinstein, wie Spacey ruinieren Leben. Sie ruinieren Karrieren und Menschen. Und mussten bis vor kurzem noch nicht einmal befürchten, dass sie auch nur einen Job verlieren. Damit wird ein Signal ausgesendet: Den Rest der Welt kümmert es nicht, was Du tust, solange Du ein Mann bist und Werke produzierst, die von einer Gruppe von Menschen mit Deutungshoheit als wertvoll angesehen werden. Denn meistens wird der Künstler nur dann vom Werk getrennt, wenn das Werk eine gewisse Wertschätzung erfährt. Dazu reicht schon ein Blick auf den Umgang mit Nate Parker: Erst wurde The Birth of a Nation gefeiert, dann wurde bekannt, dass er vor rund 17 Jahren wegen Vergewaltigung vor Gericht stand – und sein Film verschwand in der Versenkung. Parker hat sich einem Verfahren gestellt, er wurde frei gesprochen – ohne dass seine Unschuld festgestellt wurde – und dennoch kostete es ihn seine Karriere. Denn er ist ein aufstrebender Filmemacher, neu im Geschäft – und Afroamerikaner. Auch hierin zeigt sich ein Ungleichgewicht in der Wahrnehmung und Wertschätzung.

Trailer zu The Birth of a Nation

 

Zudem darf man bei all den Listen und Sammlungen, die als „Kanon“ oder als die „100 Filme, die man gesehen haben muss“ oder „Must-Sees“ bezeichnet werden, nicht vergessen, dass sie Konstrukte (aufgrund der Machtverteilung meistens von weißen Männern) sind, sie sind nicht unumstößlich, ganz im Gegenteil: Sie verändern sich beständig. Auch das Ansehen als „Genie“ (womit in der Regel übrigens auch nur Männer bezeichnet werden) ist ein Konstrukt. Aber ein gefährliches: Genies dürfen sich mies verhalten, weil sie Genies sind. Und sie sind Genies, weil sie sich mies verhalten. Aber was ist mit all der Kunst, die ich nicht zu sehen bekomme, weil sich „Genies“ mies verhalten haben? Was ist mit der Kunst, die in einer Atmosphäre entstanden wäre, in der sich Menschen nicht fürchten müssen? Glauben wir wirklich, dass gute Kunst nur unter schlechten Bedingungen entsteht?

Das sind Fragen, die wir uns stellen müssen. Natürlich kann man Geschichte nicht ausradieren, kann man nicht so tun, als hätten bestimmte Filmemacher keinen Einfluss auf Nachfolgegenerationen und andere Werke gehabt. Wir tun ja auch nicht so, als gäbe es Griffith’ The Birth of a Nation oder Riefenstahls Filme nicht. Deshalb wäre es das Mindeste, einen Rahmen zu schaffen, eine Begleitung, einen Raum für Diskussionen. Kontext ist wichtig, wenngleich sich auch hier die Frage nach persönlicher Verantwortung stellt. Vor allem aber sollten die Karrieren dieser Männer nicht unsere erste Sorge sein, sondern Aufklärung und Aufarbeitung. Denn wir können nicht so tun, als hätte sich 2017 nichts geändert.