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Kolumnen

Deutungshoheit, Macht und der Fall Harvey Weinstein

Ein Beitrag von Sonja Hartl

Eigentlich sollte an dieser Stelle eine Kolumne über die guten Tatort-Folgen von Dietrich Brüggemann und Dominik Graf stehen. Schließlich ist dies immer noch eine Krimi-Kolumne — und es gäbe einiges über sie zu sagen.

Meinungen
Blade Runner 2049 Filmbild
"Blade Runner 2049" von Denis Villeneuve

Aber seit gefühlt über einem Jahr befinde ich mich in konstantem Aufruhr, und in den vergangenen Wochen wurde er immer wieder neu befeuert. Deshalb kann ich nicht einfach zur Tagesordnung übergehen, kann nicht so tun, als sei ein Format, bei dem von 25 Folgen, die 2017 ausgestrahlt wurden, zweimal eine Frau Regie geführt hat, nicht auch Teil einer Gesellschaft, die von Männern bestimmt wird — und in der Männer wie Harvey Weinstein jahrzehntelang mit allem durchkommen.

Seit dem 5. Oktober 2017, an dem die New York Times ihren Artikel veröffentlicht hat, vergeht kein Tag, an dem nicht weitere Vorwürfe gegen Harvey Weinstein hinzukommen. Es vergeht aber auch kein Tag, an dem man nicht beobachten kann, wie um Deutungshoheit gestritten und mit zweierlei Maß gemessen wird. Sei es, dass der Druck, sich zu äußern, auf Schauspielerinnen wie Meryl Streep und Judi Dench, die mit Weinstein gearbeitet haben, sehr früh sehr viel höher war als auf beispielsweise Quentin Tarantino, der seine gesamte Filmkarriere mit Weinstein zusammengearbeitet hat. Sei es, dass das Interview mit George Clooney, der sich als einer der ersten führenden Männer von Hollywood öffentlich äußerte, gefeiert wurde, als hätte der Messias gesprochen. Sei es, dass selbst sich aufgeklärt gebende Schauspieler wie Matt Damon und Ben Affleck nicht auf den Hinweis verzichten können, dass sie als Vater von Töchtern besonders betroffen seien bzw. ihre ‚Schwestern, Freundinnen, Kolleginnen und Töchtern‘ beschützen müssten — als würde bei Frauen allein die Beziehung zu Männern zählen oder würde es dabei um sie gehen. Oder sei es, dass zwar alle fordern, im System müsse sich etwas ändern, aber Woody Allens neuster Film gerade Premiere feiert und er in einem Interview davor warnen kann, dass nicht das Klima einer ‚Hexenjagd‘ gegen Männer entstehen sollte, und die neuen Vorwürfe gegen Roman Polanski kaum beachtet werden.

All das nahm seinen Anfang in einer Woche, in der ich meine Kritik über Blade Runner 2049 schrieb und wusste, dass ich die Frauenfiguren in diesem Film kritisieren werde, aber gleichzeitig so müde war, dass ich nun wieder diejenige bin, die die „Spaßverderberin“ geben muss. Als hätte es etwas mit Spaß zu tun, dass Frauen fast ausschließlich als Wunsch- und Willenserfüllerinnen von Männern in dem Film auftreten. Mir fällt das übrigens auch nicht auf, weil ich eine Frau bin. Sonst hätte ich wohl kaum bemerkt, dass fast alle mächtigen Personen in diesem Film weiß sind — wie ich. Hier geht es zum einen schlichtweg um Empathie. Und zum anderen ist dies nur ein Beispiel dafür, was Sara Stewart in ihrem Artikel perfekt auf den Punkt bringt: „If critics fail to notice when women are not being depicted as human beings rather than sexy props, then ‚Weinstein culture‘ wins.“

Blade Runner 2049 Filmbild

Und die „Weinstein culture“ ist weit verbreitet, sicherlich nicht nur in der Filmindustrie und bestimmt nicht nur in den USA. Vielleicht ist Weinstein aufgrund der Prominenz, der Dauer und des Ausmaßes ein sehr großer Fall, aber keine Singularität. Denn machen wir uns doch nichts vor: Wir leben in einer patriarchalen Gesellschaft und Harvey Weinstein ist nur ein sehr sichtbares Problem einer ganzen Gesellschaft, in der immer noch viele nicht verstehen, warum es problematisch ist, wenn Frauen nur als männliche Projektionsflächen auf der Leinwand erscheinen und in Fiktionen ganze Erfahrungswelten ausgeblendet werden. Wenn man auf meinen Einwand, dass in Kriminalgeschichten (Literatur und Film) sehr selten Bereiche des Alltags vorkommen, die weiterhin als weiblich konnotiert sind — Pflege, Bildung, Kindererziehung — der Einwurf kommt, es hätte da doch diesen Polizeiruf gegeben. Ja, den gab es. Aber das man eine einzelne Sendung herausheben kann, beweist doch nur den Punkt: Es ist die Ausnahme. Dabei böte es sehr viele Krimistoffe, dabei sind dies wichtige Bereiche unseres Lebens. Aber stattdessen wird die Wirtschaftskriminalität thematisiert und die scheinbar großen politischen Themen unserer Zeit, in denen dann die Bereiche, die weiblich konnotiert sind, nicht vorkommen. Da muss man sich dann auch nicht wundern, wenn im Kanzler-Duell diese Politikfelder komplett ausgespart werden, obwohl sie jede_n Wähler_in betreffen. Und natürlich möchte ich auch nicht, dass Pflege, Gesundheit, Erziehung als weibliche Felder angesehen werden. Aber noch ist es so — und im Krimi können gesellschaftliche Missstände gezeigt und aufgedeckt werden. Hier ist übrigens tatsächlich der Brüggemann-Tatort ein sehr schöner Gegenentwurf. Er schafft darin einen Mikrokosmos unserer Gesellschaft, in der die Mobilität für viele zu schnell geworden ist — und in dem Moment des Stillstands lassen sich die Folgen erkennen. Für den Vater, der zwischen Kita und Haus noch schnell bei der Geliebten vorbeischaut, für die Ehefrau, deren Ehe an einem nicht erfüllten Kinderwunsch zu zerbrechen droht, für den Angestellten, der nur schnell ein Paket abliefern will, und für die Geschäftsfrau, die nun einen Termin nach dem anderen absagen muss.

Fiktionen prägen unsere Wahrnehmung, sie helfen dabei, die Wirklichkeit zu verstehen. Wenn die vergewaltigte Frau, die zur Rächerin wird, ein selbstverständlicher und üblicher Topos wird, dann wird dabei ausgeblendet, dass damit Rache als einzige Reaktion auf eine Vergewaltigung gezeigt wird — zumal damit außerdem oft noch suggeriert werden soll, dass dadurch aus einer schwachen eine starke Frau wird. Jedoch wird gerade im Genre Kritik an stereotypen Darstellungen gerne auch mit dem Hinweis auf Tradition abgeschmettert, ohne jegliches Bewusstsein dafür, dass schon die Tradition männlich beeinflusst ist. Dass hier gesellschaftliche Mechanismen und Strukturen zum Tragen kommen, die bereits sexistisch sind. Das lässt sich schon an dem Stellenwert bemessen, der Werke von Frauen innerhalb des Kanons beigemessen wird. Das hat nichts mit „künstlerischer Qualität“ zu tun, sondern mit Macht und Deutungshoheit — sowohl in der Gegenwart als auch in der Vergangenheit. Anstatt sich jedoch damit zu beschäftigen und diese Strukturen und Einschätzungen zu hinterfragen, wird vielmehr alles darangesetzt, Macht und Deutungshoheit nicht zu verlieren — und zwar von der Gruppe, der sie innehat. Und das sind in dieser Gesellschaft (weiße) Männer. Dazu gehört zum Beispiel auch eine Frage, die sehr viele Kolleginnen sicherlich sehr gut kennen: Wie kannst Du als Frau/Feministin das gut finden? Ich muss aber gar nicht erklären, wie ich Feministin sein und noir lieben kann. Ich muss darlegen, warum ich an einem Werk dieses oder jenes kritisiere. Aber ich muss mich ganz bestimmt nicht dafür rechtfertigen, wenn ich oder meine Einschätzung nicht den Erwartungen eines anderen entsprechen. Deshalb kann ich sagen, dass Denis Villeneuve ein versierter, hochinteressanter Filmemacher ist und bei Blade Runner 2049 die Darstellung der Frauen nicht gelungen ist. Oder dass ich James Ellroy sehr schätze, seine Frauenfiguren aber überwiegend fürchterlich sind. Doch alleine, dass ich gefragt werde, wie ich als Feministin dieses oder jenes gut finden könnte, oder immer wieder versucht wird, Kritik an einem Werk darauf zurückzuführen, dass ich eine Frau bin, zeigt, dass ich nicht als gleichberechtigt angesehen werde. Es gibt hier einen Unterschied, ob ein Kollege zu mir sagt, „ich dachte mir schon, dass Du xyz nicht gut findest, weil Du ja die Werke a, b und c nicht mochtest“ oder „ich dachte mir schon, dass Du das nicht findest, weil das ja nichts für Frauen ist“. (Merkt man doch, oder?)

Und deshalb gilt auch bei Filmkritiken und Filmen, was bei dem Fall Harvey Weinstein und in der Gesellschaft gilt: Ich muss nicht benachteiligt sein, um Benachteiligungen wahrzunehmen. Ich muss nicht betroffen sein, um Diskriminierungen zu erkennen. Ich muss keine Frau sein, um gegen Sexismus zu kämpfen. Das ist Aufgabe von uns allen.

Sonja Hartl schreibt über Filme und (Kriminal-)Literatur, am liebsten über die Verbindungen von ihnen. Sie betreibt das Blog Zeilenkino, ist Chefredakteurin von Polar Noir und Jury-Mitglied der Krimibestenliste.

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